Mein Leben ohne Limits
hörte, wie der Chor das Eröffnungslied sang. Der Gottesdienst hatte gerade angefangen. Der Saal war gut gefüllt, also suchte ich mir einen Platz ganz vorn und bereitete mich mental auf meine Rede vor. Ich war noch nie in dieser Kirche zu Gast gewesen und ging davon aus, dass mich die Leute nicht kannten. Deswegen war ich umso überraschter, als ich meinen Namen hörte. „Nick! Nick!“, rief jemand und versuchte, den Gesang zu übertönen.
Die Stimme war mir fremd und ich wusste nicht, ob ich überhaupt gemeint war. Aber als ich mich umdrehte, winkte mir ein älterer Herr zu.
„Nick! Hier drüben!“, rief er noch einmal.
Jetzt, als er meine Aufmerksamkeit hatte, zeigte er auf einen jungen Mann, der neben ihm saß. Er schien ein kleines Kind zu halten. Es waren so viele Leute überall, dass ich zuerst nur die leuchtenden Augen, braune Haare und ein breites Lächeln sah, dem einige Zähnchen fehlten.
Da reckte der Mann den kleinen Jungen hoch in die Luft. Als ich das ganze Kind sah, überrollte mich eine so intensive Gefühlswelle, dass mir die Knie weich geworden wären, wenn ich welche hätte.
Der kleine Junge mit den leuchtenden Augen sah aus wie ich. Keine Arme. Keine Beine. Er hatte sogar ein kleines Füßchen auf der linken Seite. Obwohl er keine zwei Jahre alt zu sein schien, sah er genauso aus wie ich. Jetzt begriff ich, warum die beiden Männer meine Aufmerksamkeit gesucht hatten. Hinterher fand ich heraus, dass der Kleine Daniel Martinez heißt und seine Eltern Chris und Patty.
Ich wollte mich eigentlich auf meine Rede vorbereiten, aber den kleinen Daniel zu sehen – und mich in ihm –, löste ein wahres Gefühlschaos in mir aus. Ich konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Mich übermannte Mitgefühl für die Familie. Dann bombardierten mich Erinnerungen an qualvolle Momente. Meine eigene Kindheit kam in mir hoch und ließ mich begreifen, was der Kleine wohl durchmachte.
Ich weiß genau, wie er sich fühlt , dachte ich. Ich habe das alles schon hinter mir . Noch einmal drehte ich mich um und sah den kleinen Jungen mit den leuchtenden Augen. Innerlich spürte ich eine Welle der Gefühle und ein unsichtbares Band zwischen uns. Meine Unsicherheit, Einsamkeit und der ganze verdrängte Frust kamen hoch und nahmen mir die Luft zum Atmen. Es war, als kochte ich unter den Bühnenlampen. Mir wurde schwindlig. Ich hatte nicht unbedingt eine Panikattacke, aber dieser kleine Junge vor mir ließ den kleinen Jungen in mir wieder auferstehen.
Und dann hatte ich eine Offenbarung, die mich ruhig machte. Als ich so alt war wie er, gab es niemanden, der mich verstand und mir helfen konnte. Aber Daniel hat mich. Ich kann ihm helfen. Meine Eltern können seinen Eltern helfen. Er muss nicht alles durchmachen, was ich erlebt habe. Vielleicht kann ich ihm einigen Schmerz ersparen . Auch wenn ich keine Arme und Beine hatte, konnte ich es nun glasklar vor mir sehen: Mein Leben hatte Wert. Mir fehlte nicht das Geringste, um etwas zu bewegen. Von nun an würde meine Erfüllung sein, anderen zu helfen. Ihnen Perspektiven zu verschaffen. Von diesem Moment an wusste ich wirklich, dass mein Leben nicht sinnlos war.
Ein Leben ohne Sinn ist trist, aussichtslos und total leer. Wer aber entdeckt, was er Gutes tun kann, findet Freude, Erfüllung und Hoffnung!
Mit meinem Besuch in der Knott Avenue Christian Church wollte ich eigentlich den Leuten dort Mut machen. Und dann bekam ich selbst Mut gemacht. Der kleine Junge, der über der Menge schwebte, warf mich zunächst völlig aus der Bahn. Aber dann bestätigte er mir auf atemberaubende Weise, dass ich tatsächlich etwas für die Menschen tun konnte, und vor allem für die, die es wie Daniel und seine Eltern wirklich nicht leicht hatten.
Das Erlebnis am Anfang des Gottesdienstes war so überwältigend für mich, dass ich es mit der ganzen Gemeinde teilen wollte. Also bat ich Daniels Eltern, den kleinen Jungen zu mir auf die Bühne zu bringen.
„Nichts im Leben ist Zufall“, sagte ich. „Jeder Atemzug, jeder Schritt – Gott hat es in der Hand. Deswegen halte ich es auch nicht für Zufall, dass es in diesem Saal noch einen Jungen gibt, der keine Arme und Beine hat.“
Bei diesen Worten zeigte der Kleine ein strahlendes Lächeln. Mucksmäuschenstill sahen alle zu, wie sein Vater ihn neben mich hielt. Der Anblick eines jungen Mannes und eines Kleinkinds mit derselben körperlichen Behinderung, die sich gegenseitig anstrahlten, führte zu so manchem Schluchzen in den
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