Mein Leben ohne Limits
Kirchenbänken.
Ich bin eigentlich keine Heulsuse, aber als um uns herum eine wahre Tränenflut ausbrach, konnte ich mich nicht mehr zusammenreißen. Ich weiß noch, dass ich abends zu Hause kein einziges Wort sagte. Immer dachte ich an den kleinen Jungen und daran, dass er dasselbe durchmachte wie ich. Was würde ihn erwarten, wenn er nach und nach mitbekam, wie anders er war? Wie würde er es verkraften, genauso abgelehnt und gehänselt zu werden? Der Gedanke daran machte mich traurig. Aber dann fiel mir ein, wie meine Eltern und ich ihm zur Seite stehen könnten. Vielleicht würde es mir gelingen, in ihm einen Funken Hoffnung zu entzünden. Ich konnte es kaum erwarten, meinen Eltern von der Begegnung zu erzählen. Sie würden sofort Feuer und Flamme sein, die Familie kennenzulernen. Schließlich hatten auch meine Eltern so einiges ohne fremden Beistand durchgemacht. Sie würden ihm bestimmt mehr als gern helfen wollen.
EIN WINKEN VON OBEN
Das Ganze war für mich fast irreal. Ich war sprachlos (eine Seltenheit). Ein Blick von Daniel genügte, um mein Herz zum Schmelzen zu bringen. Immer wieder dachte ich über meine eigene Kindheit nach. Ich hatte mir damals so sehr gewünscht, nicht der Einzige auf der ganzen Welt zu sein, der anders ist als die anderen. Niemand konnte wirklich verstehen, was in mir vorging und mit welcher Einsamkeit und welchem Schmerz ich fertigwerden musste.
Im Rückblick war ich fast überwältigt davon, wie grausam es für mich gewesen war, anders zu sein. Wenn ich gehänselt oder gemieden wurde, machte das alles nur noch schlimmer. Aber verglichen mit dem Moment von Daniel und mir auf der Bühne, mit diesem Augenblick voller Gnade und Liebe Gottes kam mir das alles plötzlich unwichtig vor.
Ich wünsche niemandem meine Behinderung, auch nicht Daniel. Er tat mir unwahrscheinlich leid. Aber zugleich spürte ich, dass sich unsere Wege nicht zufällig gekreuzt hatten. Mir war, als würde der Himmel mir zuwinken und sagen: Alles klar? Siehst du jetzt, wo es langgeht?
DAS WUNDER IN MIR
Keine Angst: Ich habe nicht auf alle Fragen eine Antwort. Was weiß ich schon über dein Leben? Ich bin körperlich ziemlich zu kurz gekommen, aber habe dafür niemals Missbrauch oder Vernachlässigung durchmachen müssen. Meine Familie ist intakt. Wir sind innerlich alle gesund und munter. Mir sind viele schlechte Erfahrungen erspart geblieben. Inzwischen bin ich mir sicher, dass mein Schicksal leichter ist als das von vielen anderen Menschen.
In diesem magischen Moment, als ich mich umdrehte und Daniel sah, wurde mir eins bewusst: Ich war das Wunder geworden, um das ich gebetet hatte. Mir hatte es Gott nicht gegönnt – aber ihm.
Ich war vierundzwanzig Jahre alt, als ich Daniel zum ersten Mal begegnete. Später verriet mir seine Mutter Patty nach einer Umarmung, sie habe sich wie in die Zukunft versetzt gefühlt. Ihr war, als habe sie ihren eigenen erwachsenen Sohn umarmt.
„Wenn du wüsstest, Nick“, sagte sie ergriffen. „Ich habe Gott in den Ohren gelegen, er möge mir doch ein Zeichen schicken, dass er meinen Sohn nicht vergessen hat. Du bist ein Wunder. Du bist unser Wunder!“
Was noch dazu kam, war, dass meine Eltern sich genau an diesem Wochenende für ihren ersten Besuch bei mir angemeldet hatten. Ich war ein Jahr zuvor von Australien in die Vereinigten Staaten gezogen. Das heißt, nur wenige Tage später konnten auch meine Eltern Daniel und seine Familie kennenlernen. Wie du dir vorstellen kannst, hatten sie sich eine Menge zu erzählen. Meine Eltern waren Chris und Patty eine noch größere Hilfe als ich. Wer sollte sie besser dabei unterstützen, ein derartig behindertes Kind aufzuziehen? Wer konnte ihnen mehr Hoffnung machen und sogar handfeste Beweise dafür liefern, dass ihr Sohn später ein relativ normales Leben führen können würde? Dass auch Daniel nicht nutzlos auf der Welt war? Voller Begeisterung erzählten wir ihnen von unseren Erfahrungen und machten ihnen Mut. Wir konnten ihnen zeigen, dass auch ein Leben ohne Arme und Beine Hand und Fuß haben kann.
Daniel ist noch heute eine einzige Motivation für mich. Seine Energie und Freude am Leben faszinieren mich immer wieder. Auch dieses Geschenk hätte ich hinter unserer Begegnung von damals nie vermutet.
SCHENKEN MACHT REICH
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