Mein Leben
Dichter Władysław Broniewski hat ihr kurz vor dem Zweiten Weltkrieg eines seiner schönsten Gedichte gewidmet. In ihm spricht er von dem schroffen Widerspruch zwischen dem freundlichen, dem liebevoll-zarten Straßennamen (»Mila-Straße« heißt soviel wie »Lieblichstraße«) und dem abstoßenden Leben, das sich dort alltäglich abspielt. Das Gedicht beginnt mit den Worten:
Die Lieblichstraße – lieblich ist sie nicht.
Die Lieblich Straße – betritt sie nicht, meine Liebste.
Und es endet:
Und selbst wenn ich zu dir dränge,
meide ich die Lieblichstraße,
denn wer weiß, ob ich mich dort nicht erhänge.
Allerdings kennt man den Dichter Władysław Broniewski, einen der bemerkenswerten polnischen Lyriker unseres Jahrhunderts, außerhalb Polens kaum – und das unübersetzbare Gedicht »Mila Straße« schon gar nicht.
Einem amerikanischen Autor unterhaltsam-spannender Romane, Leon Uris, blieb es vorbehalten, der Mila-Straße internationale Bekanntheit zu verschaffen: Er ließ 1961 seinem sensationellen Bestseller »Exodus« einen zweiten Roman folgen, der ebenfalls ein Welt-Bestseller wurde – den Roman »Mila 18«. In diesem Haus, genauer: in dessen geräumigem Keller-Bunker befand sich die Kommandantur der Jüdischen Kampforganisation, hier war das Zentrum des Aufstands im Warschauer Getto.
Unmittelbar nach der »Großen Selektion« erfuhren wir, Tosia und ich, daß man uns unsere bisherige Wohnung weggenommen hatte. Denn während diese »Selektion« im Gange war, wurden die Grenzen des Gettos von den deutschen Behörden blitzschnell enger gezogen: Die Straße, in der wir noch vor einigen Stunden gewohnt hatten, gehörte jetzt nicht mehr dazu, wir durften sie nicht mehr betreten. Doch von weitem konnten wir sehen, daß dort zahlreiche Lastwagen und riesige Möbelwagen standen: Die SS-Formation »Werterfassung« war schon mit dem Abtransport aller Habseligkeiten jener beschäftigt, die inzwischen auf dem Weg nach Treblinka waren. Wir verstanden, warum es, als wir uns der »Großen Selektion« zu stellen hatten, verboten gewesen war, unsere Wohnungen abzuschließen. Ja, es war alles gut geplant, gut organisiert.
Nun warteten wir in einer langen Kolonne auf die Zuteilung einer Unterkunft, womöglich einer neuen Wohnung. Wir wurden in die Mila-Straße geführt; an die Hausnummer kann ich mich nicht mehr erinnern. Die Wohnung, die wir bekamen, bestand aus einem Zimmer, einer Küche und einem winzigen Waschraum. In diesen Wänden hatten vor fünf, höchstens zehn Stunden Menschen gelebt, wohl ein Ehepaar, das sich jetzt im überfüllten Viehwaggon nach Treblinka befand. Nein, vermutlich waren die beiden dort schon angelangt und von SS-Männern aus den Waggons getrieben worden. Vielleicht erklärte ihnen gerade jetzt ein ernster, ein ruhiger Offizier, sie seien in einem Durchgangslager und müßten sich, bevor sie in ein Arbeitslager kämen, ausziehen – Männer und Frauen getrennt, wie es sich schickt. Dann sollten sie gründlich duschen, denn die Hygiene sei nun einmal oberstes Gesetz. Daher werde auch ihre Kleidung desinfiziert. Geld und Wertsachen seien abzugeben, aber sie würden sie, versteht sich, nach dem Duschen zurückerhalten. Denn Ordnung muß sein. Und: Hier herrsche strenge Disziplin, deutsche Disziplin.
Oder waren die beiden Neuankömmlinge aus Warschau schon nackt und in dem »Schlauch«, wie der Pfad genannt wurde, der zur Gaskammer führte? Möglich, daß sie bereits in der Gaskammer standen, dicht neben meiner nackten Mutter und meinem nackten Vater, in der Gaskammer, die einem Duschraum ähnelte und an deren Decke Röhren angebracht waren. Doch kein Wasser strömte aus diesen Röhren, sondern das von einem Dieselmotor produzierte Gas. Etwa dreißig Minuten dauerte es, bis alle, die sich in der Gaskammer drängten, erstickt waren. In ihrer Todesangst, in ihren letzten Augenblicken haben die Sterbenden Darm und Blase nicht beherrschen können. Die meist mit Kot und Urin besudelten Leichen wurden rasch beseitigt – um Platz zu machen für die nächsten Juden aus Warschau.
Wir aber waren in der Mila-Straße, in jener kleinen Wohnung, die heute früh von zwei Menschen offenbar in größter Eile verlassen worden war. Schweigend, beklommen, blickten wir umher. Die Betten waren nicht gemacht, der Küchentisch war nicht abgeräumt, auf einem Teller lag noch, neben zwei halbvollen Gläsern Tee, ein angebissenes Stück Brot, und es brannte noch das Licht im Waschraum. Auf einen
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