Mein Leben
fragte man sich – derartige Gerüchte aus deutschen Quellen stammen und die jüdische Bevölkerung irreführen? Andererseits hörte man immer häufiger, es werde bald wieder eine »Aktion« geben, man müsse mit der nächsten »Umsiedlung«, mit der nächsten Deportation nach Treblinka rechnen: Unentwegt wurden Termine genannt, die uns in höchste Aufregung versetzten.
Alle wußten wir: Diese »Zweite Aktion« werde mit Sicherheit früher oder später erfolgen und wir dürften auf keinen Fall die Entwicklung untätig abwarten. Manche planten, aus dem Getto in den »arischen« Teil Warschaus zu fliehen. Das war äußerst schwierig und mit einem enormen Risiko verbunden. Wer außerhalb des Gettos von der Existenz eines Juden wußte und diesen nicht sogleich anzeigte, wer ihm gar half und Unterkunft gewährte, dem drohte – zusammen mit seiner Familie – die Todesstrafe. Die Juden, die man in den »arischen« Stadtteilen aufgedeckt hat – denn viele waren schon vor der »Ersten Aktion« geflohen oder überhaupt nicht ins Getto gegangen –, wurden meist sofort erschossen.
Aber auch diejenigen, die die Flucht fürchteten, waren entschlossen, die Zeit bis zu den nächsten Maßnahmen der Deutschen auf keinen Fall untätig verstreichen zu lassen. Die Keller mancher Häuser wurden mit großer Mühe und viel Geschick in Schutzräume umgebaut, die mit Lebensmitteln und Wasservorräten versorgt, an die Wasserleitungen angeschlossen wurden und bisweilen sogar an das unterirdische Kanalnetz, durch das man aus dem Getto fliehen konnte. Im Falle einer abermaligen Deportation wollte man sich dort verbergen und sie auf diese Weise vielleicht überdauern.
Vor allem wurde beschlossen, der zu erwartenden nächsten »Umsiedlung« offenen Widerstand zu leisten – mit der Waffe in der Hand. Eine derartige (natürlich hoffnungslose) Auflehnung gegen die Deutschen hatten Vertreter verschiedener jüdischer Organisationen auf einer gemeinsamen Sitzung schon am 22. Juli 1942 erörtert, allerdings mit negativem Ergebnis: Da im Getto Waffen kaum vorhanden waren, hätte der Widerstand, meinte man zu jener Zeit, nicht einmal symbolische Bedeutung gehabt. Jetzt, im Herbst 1942, war die Situation ganz anders: Jugendgruppen und politische Parteien hielten den Augenblick für gekommen, sich zusammenzuschließen. Die Jüdische Kampforganisation (später benutzte man die polnische Abkürzung ZOB) wurde gegründet. Vor allem mußten Waffen beschafft werden, sie waren noch am ehesten bei polnischen Untergrundorganisationen zu erhalten. Alles mußte sehr schnell geschehen, denn man rechnete mit der nächsten Deportation im Dezember, spätestens im Januar 1943.
Mitte Januar gab es wieder einmal beruhigende Gerüchte, die offensichtlich aus deutschen Quellen stammten und nichts anderes bezwecken sollten, als die Wachsamkeit der Juden einzuschläfern. Am 18. Januar wurden wir kurz nach sechs Uhr morgens vom Lärm auf der Straße geweckt. Ich sprang ans Fenster und sah trotz der Dunkelheit Hunderte, wenn nicht gar Tausende von Juden, die eine Marschkolonne bildeten. Von unserer Haustreppe hörte ich laute, rüde Kommandos. Ich verstand, daß alle, die nicht sofort ihre Wohnung verließen und sich auf der Straße einfänden, an Ort und Stelle erschossen würden. Wir zogen uns so schnell wie möglich an und liefen hinaus. Zweierlei fiel mir gleich auf: Die Kolonne vor unserem Haus, von der wir nicht wußten, wo sie begann und wo sie endete, wurde von einer viel größeren Zahl von Gendarmen bewacht als früher: Die Posten standen, mit schußbereiter Waffe in der Hand, nur zehn oder fünfzehn Meter voneinander entfernt. Sie trugen deutsche Uniformen, es waren, anders als früher, nicht Letten, Litauer oder Ukrainer, sondern, wie die Sprache ihrer zornigen, wütenden Rufe und Befehle erkennen ließ, wirklich Deutsche und vorwiegend Österreicher.
Nach wenigen Minuten wurden wir in Marsch gesetzt. Wir zweifelten nicht, wohin er führte: zum »Umschlagplatz«. Es war ebenfalls klar, daß wir an diesem stets überfüllten und auf abscheuliche Weise besudelten Warteraum für die Passagiere, die für die Gaskammer bestimmt waren, sehr bald ankommen würden. Denn die Mila-Straße war nicht weit vom Ziel unseres langsamen Schweigemarsches entfernt. Ich flüsterte Tosia ins Ohr: »Denk an die Dostojewski-Anekdote.« Sie wußte genau, was ich meinte.
In Stefan Zweigs vor und auch noch nach dem Krieg besonders populären »Sternstunden der Menschheit« betrifft
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