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Mein Leben

Mein Leben

Titel: Mein Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Reich-Ranicki
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»Lebensnummern«, ließen sich aber von der angedrohten Todesstrafe nicht beirren: Sie hielten sich irgendwo im Getto verborgen. Alle anderen, es waren Zehntausende, wurden von der »Registrierung«, von der »großen Selektion« direkt zu den Zügen nach Treblinka abgeführt.
    Manche fielen auf, weil sie ein sonderbares Gepäck hatten. Sie trugen Musikinstrumente in entsprechenden Kästen: eine Violine, eine Klarinette, eine Trompete, ja sogar ein Cello. Das waren die Musiker vom Symphonieorchester. Mit einigen konnte ich, als wir stundenlang auf die endgültige »Selektion« warten mußten, noch kurz sprechen. Jeder gab auf die Frage, warum er das Instrument mitnehme, beinahe wörtlich die gleiche Antwort: »Die Deutschen lieben doch die Musik. Vielleicht werden sie einen, der ihnen etwas vorspielt, nicht ins Gas schicken.« Aber von den Musikern, die nach Treblinka abtransportiert wurden, ist kein einziger wiedergekommen.
    Und Marysia Ajzensztadt, die zarte, die wunderbare Sopranistin, die vom ganzen Getto geliebt wurde? Jeder war entschlossen, ihr zu helfen, sie zu beschützen, auch jeder Milizionär. Sie geriet auf den »Umschlagplatz«, ein Jude, der an diesem Tag dort etwas zu sagen hatte, wollte und konnte sie retten. Aber ihre Eltern waren schon im Waggon – und sie wollte sich nicht von ihnen trennen. Sie versuchte, sich von dem Milizionär, der sie festhielt, loszureißen. Ein SS-Mann beobachtete die Szene und erschoß sie. Andere berichten, sie sei nicht auf dem »Umschlagplatz« umgebracht, sondern von dem SS-Mann in den Waggon nach Treblinka gedrängt und dort vergast worden. Unter denen, die das Getto überlebt haben, gibt es keinen, der sie vergessen hätte.
    Tosia und ich hatten, da ich als Übersetzer noch gebraucht wurde, die begehrten »Lebensnummern« erhalten – ob die Deutschen diese Nummern auch wirklich honorieren würden, dessen waren wir nicht sicher, das mußte sich bald zeigen: Wir wurden auf den Platz geführt, auf dem sich heute das 1947 errichtete Warschauer Getto-Denkmal befindet, und dort gab es, wie nun schon üblich, einen etwas gelangweilten jungen Mann mit einer offenbar nagelneuen Reitpeitsche. Hier sollte sich wieder einmal entscheiden, ob wir nach links gehen mußten, also zum »Umschlagplatz«, zu den Waggons nach Treblinka, oder nach rechts, also, vorerst, am Leben bleiben durften. Die Peitsche zeigte nach rechts.
    Meine Eltern hatten schon ihres Alters wegen – meine Mutter war 58 Jahre alt, mein Vater 62 – keine Chance, eine »Lebensnummer« zu bekommen, und es fehlten ihnen Kraft und Lust, sich irgendwo zu verbergen. Ich sagte ihnen, wo sie sich anstellen mußten. Mein Vater blickte mich ratlos an, meine Mutter erstaunlich ruhig. Sie war sorgfältig gekleidet: Sie trug einen hellen Regenmantel, den sie aus Berlin mitgebracht hatte. Ich wußte, daß ich sie zum letzten Mal sah. Und so sehe ich sie immer noch: meinen hilflosen Vater und meine Mutter in dem schönen Trenchcoat aus einem Warenhaus unweit der Berliner Gedächtniskirche. Die letzten Worte, die Tosia von meiner Mutter gehört hat, lauten: »Kümmere dich um Marcel.«
    Als sich die Gruppe, in der sie standen, dem Mann mit der Reitpeitsche näherte, war er offenbar ungeduldig geworden: Er trieb die nicht mehr jungen Leute an, doch schneller nach links zu gehen. Er wollte schon von seiner schmucken Peitsche Gebrauch machen, aber es war nicht mehr nötig: Mein Vater und meine Mutter – ich konnte es von weitem sehen – begannen in ihrer Angst vor dem strammen Deutschen zu laufen, so schnell sie konnten.
    Am nächsten Tag traf ich den Kommandanten der jüdischen Miliz auf dem »Umschlagplatz«, einen rabiaten Mann, den ich flüchtig kannte, weil er einige Wochen lang im Getto unser Nachbar war. Er sagte mir: »Ich habe Ihren Eltern ein Brot gegeben, mehr konnte ich für sie nicht tun. Dann habe ich ihnen noch in den Waggon geholfen.«

 
Ordnung, Hygiene, Disziplin
     
    Die Mila-Straße in Warschau hat zwar keinen guten Ruf, aber eine Zeitlang erfreute sie sich in vielen Ländern einer auffallenden Popularität: Die Adresse »Mila 18« war beinahe weltberühmt, auch wenn jene, die sie immer wieder nannten, oft nicht recht wußten, was sich hinter ihr verbarg. Es handelt sich um eine arme, eine, offen gesagt, scheußliche Straße im nördlichen, vor dem Krieg vor allem von Juden bewohnten Teil Warschaus.
    Daß sie außerhalb der polnischen Hauptstadt bekannt wurde, hat mit der Literatur zu tun. Der polnische

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