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Mein Leben

Mein Leben

Titel: Mein Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Reich-Ranicki
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bestimmten Kolonnen zugewiesen. Wer wie ich schwarzhaarig war, hat sich in jener Zeit zweimal täglich rasiert. Ich habe mir das bis heute nicht abgewöhnen können, ich rasiere mich immer noch zweimal täglich.
    Oft allerdings hat sich der SS-Unterscharführer, der über unser Leben entscheiden durfte, nur von seiner Laune leiten lassen: Wie anders sollte man es sich erklären, daß er bisweilen auf einmal zwanzig oder dreißig Personen, darunter auch jüngere und adrett aussehende, mit einem gelangweilten Peitschenzeichen auf die Todesseite lenkte?
    Wir, Tosia und ich, haben die August-»Selektionen« auf dem Hof des »Judenrat«-Gebäudes überstanden. Auch meine Eltern, die ich dort in einem Nebengebäude untergebracht hatte, teilte man der Seite des Lebens zu. Tosias Mutter aber, die in einem Textil-Betrieb Unterschlupf gesucht hatte, gehörte zu jenen, die im August zum »Umschlagplatz« getrieben wurden. Wir haben sie nie wiedergesehen. Als meine Mutter hörte, daß Tosia nun ganz allein war, sagte sie ihr sofort: »Du bleibst jetzt bei uns.« Wir waren meiner Mutter dankbar, daß sie dies für selbstverständlich hielt.
    Unbegreifliches konnte man damals, also während der »Großen Aktion«, auf den Straßen des Gettos sehen: lange Menschenzüge, die, von niemandem bewacht oder getrieben, mit schwerem und, wie sich meist noch am selben Tag erwies, völlig überflüssigem Gepäck zum »Umschlagplatz« gingen. Sie folgten einer Bekanntmachung der jüdischen Miliz, die unter Berufung auf die deutschen Behörden allen, die sich freiwillig zur »Umsiedlung« meldeten, eine Lebensmittelzuteilung versprach: pro Person drei Kilogramm Brot und ein Kilogramm Marmelade. Zu diesem Zeitpunkt war noch nicht sicher, was sich hinter dem Wort »Umsiedlung« verbarg: Hunderte, an manchen Tagen sogar Tausende Verzweifelter und Hungernder meinten, am Ende der schrecklichen Bahnfahrt werde eine »Selektion« stattfinden, wenigstens ein Teil der Angekommenen könne, für harte Arbeit ausgewählt, überleben.
    Aber jene, die sich nicht freiwillig zur Deportation meldeten, die nicht Selbstmord verübten (das taten alltäglich viele) und die nicht in den »arischen« Teil Warschaus flohen, was gerade während der »Großen Aktion« besonders schwierig und riskant war – worauf hofften sie? Ein Kollege im Amt des »Judenrates«, ein intelligenter und witziger Mann, flüsterte mir eine trockene, eine beinahe schnippische Bemerkung ins Ohr: »Von uns allen wird bleiben: eine kleine Delegation. Mehr werden die lieben Deutschen nicht genehmigen.« Der Mann wurde für einen Pessimisten gehalten. Aber seine Voraussage war noch allzu optimistisch. Vorerst freilich wollten viele glauben, daß sie der »kleinen Delegation« angehören würden.
    Wieder waren Gerüchte im Umlauf, diesmal über das angeblich nahe Ende der »Umsiedlung«. Die Deutschen wollten wohl – darüber machte man sich immer wieder Gedanken – eine bestimmte Anzahl von Juden deportieren. Hatte es die SS-Führung auf ein Drittel der Gettobevölkerung abgesehen oder auf die Hälfte oder gar auf noch mehr? Daß sie die »Endlösung« anstrebte, darauf verfiel niemand.
    Es gab Juden, die meinten, die Weltöffentlichkeit, die auf dem Funkweg über die Vorgänge im Generalgouvernement laufend informiert wurde, werde gegen das Ungeheuerliche protestieren und damit wohl etwas erreichen. Man hielt es für möglich, ja insgeheim rechnete man damit, daß die SS eines Tages, auf Grund einer Weisung aus Berlin, die Aktion abbrechen würde. In den letzten August- und in den ersten September-Tagen war es im Getto tatsächlich etwas ruhiger, manche glaubten schon, das Schlimmste hinter sich zu haben.
    Aber am 5. September gab es wieder eine an allen Mauern plakatierte Anordnung: Sämtliche noch im Getto lebenden Juden hatten sich am nächsten Tag um zehn Uhr morgens auf den Straßen eines genau bezeichneten Bezirks in der Nähe des »Umschlagplatzes« zu stellen: »zur Registrierung«. Man sollte Lebensmittel für zwei Tage mitbringen und Trinkgefäße. Die Wohnungen durften nicht verschlossen werden. Was jetzt stattfand, nannte man die »große Selektion«: 35000 Juden, somit weniger als zehn Prozent der Bewohnerzahl des Gettos vor Beginn der »Umsiedlung«, erhielten gelbe »Lebensnummern«, die auf der Brust zu tragen waren – es waren vorwiegend die »nützlichen« Juden, diejenigen, die in den deutschen Betrieben arbeiteten oder im »Judenrat«. Tausende bekamen keine

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