Mein Leben
Warschau.
Bald wurde bekannt, daß alle Transporte zu einem nordöstlich von Warschau gelegenen und nicht viel über hundert Kilometer entfernten Bahnhof gingen, der zu Treblinka gehörte, einer kleinen benachbarten Ortschaft. Von diesem Bahnhof führte ein etwa vier Kilometer langes Nebengleis in eine dicht bewaldete Gegend, in der sich das Lager Treblinka befand. Wirklich ein Lager? Wenig später erfuhr man noch, daß dort kein Konzentrationslager war, geschweige denn ein Arbeitslager. Dort gab es nur eine Gaskammer, genauer: ein Gebäude mit drei Gaskammern. Was die »Umsiedlung« der Juden genannt wurde, war bloß eine Aussiedlung – die Aussiedlung aus Warschau. Sie hatte nur ein Ziel, sie hatte nur einen Zweck: den Tod.
Man machte sich im Getto keine Illusionen. Aber Hoffnungen? Ein neuer deutscher Begriff kam in Umlauf: »nützliche Juden«. Als »nützlich« galt, vermutete man, wer im Sinne der »Eröffnungen und Auflagen« von der »Umsiedlung« ausgenommen war. Doch wie sollte man nachweisen, daß man etwas »Nützliches« verrichte, wenn diejenigen, die das Getto systematisch durchkämmten, vor allem die Letten, die Litauer, die Ukrainer, die ihnen gezeigten deutschen Arbeitsbescheinigungen ignorierten und oft gleich wegwarfen oder zerrissen? Am sichersten schien es, sich von den jeweiligen Arbeitsplätzen nicht zu entfernen. Dabei handelte es sich in der Regel um große Betriebe, die im Getto allerlei für deutsche Auftraggeber produzierten und deren deutsche Inhaber oder Chefs daran interessiert waren, die Deportation der bei ihnen beschäftigten Juden nicht zuzulassen. Denn diese Arbeitskräfte wurden überhaupt nicht oder nur minimal entlohnt.
Auch die Angestellten des »Judenrates«, dessen Personal schon stark reduziert war, wurden vorerst als »nützlich« eingestuft. Daher hielten wir uns, Tosia und ich, den ganzen Tag über in meinem Büro auf. Unerwartet erschien dort eine Verwandte Tosias, eine tüchtige und mutige Frau, die außerhalb des Gettos als Nichtjüdin lebte. Sie war gekommen, um Tosia mitzunehmen, also zu retten. Allerdings, sagte sie, sei es ihr nicht möglich, auch mich mitzunehmen. Das wäre zwecklos und gefährlich. Denn so, wie ich nun einmal mit meinen schwarzen Haaren aussehe, würde man mich als Juden erkennen und denunzieren – und auf der Stelle erschießen. Das sei jetzt gang und gäbe, sie selber habe neulich gesehen, wie eine Jüdin außerhalb des Gettos aufgedeckt und erschossen worden sei. Tosia hingegen könne – meinte jene Tante – durchaus als »Arierin« gelten. Sie solle sich die Sache rasch überlegen und gleich mitkommen, nur müsse sie sich eben von mir trennen. Auch derartiges sei doch heute gang und gäbe.
Ohne mit mir darüber zu reden, hat sich Tosia sofort entschieden. Sie sagte knapp, sie werde mich nicht allein lassen.
Wir blieben zusammen, weiterhin. Daß eine Frau ihr Leben riskiert, um einen Freund, einen Geliebten, einen Ehemann zu retten, dieses Motiv kannte ich wohl – aus Opern, aus Balladen und Novellen. Damals, im Warschauer Getto, habe ich es zum ersten Mal in der Wirklichkeit erfahren.
Zwei- oder dreimal fanden im August im Amt des Judenrates überraschende »Selektionen« statt. So nannte man das Verfahren, das dazu diente, einen Teil der von der Deportation Freigestellten doch zum »Umschlagplatz« zu treiben. Eine »Selektion« spielte sich folgendermaßen ab: Plötzlich mußten wir alle in den Hof gehen, uns in Kolonnen aufstellen und dann einzeln an einem SS-Führer vorbeimarschieren. Meistens war es ein junger, ein untergeordneter Mann, ein Unterscharführer etwa, mit einer hübschen Reitpeitsche in der Hand. Ihm hatte man zu sagen, wo und in welcher Eigenschaft man tätig sei, worauf er mit seiner Peitsche zeigte, ob man nach links oder nach rechts gehen sollte.
Auf der einen Seite standen jetzt diejenigen, die im Getto bleiben durften, auf der anderen jene, die zum »Umschlagplatz« und gleich in die Waggons gehen mußten. Die eine Seite bedeutete das Leben, das einstweilige, die andere den Tod, den sofortigen. Wonach entschied der Deutsche mit der hübschen Reitpeitsche? Richtete sich seine Auswahl nach irgendwelchen Gesichtspunkten? Wir hatten den Eindruck, daß kräftigere, arbeitsfähige Menschen eher Chancen hatten, auf die Seite des Lebens zu gelangen. Überdies hing es offensichtlich auch davon ab, wie man aussah. Schmuddelige, unordentlich gekleidete oder gar unrasierte Juden wurden sofort den für die Gaskammer
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