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Mein Leben

Mein Leben

Titel: Mein Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Reich-Ranicki
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eine der »historischen Miniaturen« ein ungewöhnliches Ereignis aus dem Leben von Dostojewski. Nachdem er 1849 aus politischen Gründen zum Tode verurteilt worden war, hatte man ihm, Stefan Zweig zufolge, auf der Hinrichtungsstätte schon das Sterbehemd angezogen, ihn schon mit Stricken an Pfähle gefesselt und ihm die Augen verbunden. Da hörte man plötzlich einen Schrei: Halt! Im letzten, im allerletzten Moment kam ein Offizier mit einem Dokument: Der Zar hatte das Todesurteil kassiert und die Strafe in eine mildere verwandelt.
    Diese Miniatur über Dostojewski hatte mich, obwohl sie in literarischer Hinsicht ziemlich fatal ist, zusammen mit einigen anderen Stücken aus Zweigs »Sternstunden der Menschheit« in meiner Gymnasialzeit beeindruckt. Ich hatte sie Tosia erzählt – und in den Reihen zum »Umschlagplatz« erinnerte ich sie an diesen von Stefan Zweig geschilderten und zum Teil frei erfundenen Vorfall. Ich wollte sie beschwören, sollten wir getrennt werden, nur ja nicht zu früh aufzugeben. Freilich war es hier mit Anekdotischem, mit Literarischem nicht getan. Da der Weg zum »Umschlagplatz« sehr kurz war, konnte uns die Flucht aus der Kolonne nur jetzt gelingen oder nie – zumal die Flucht aus dem Eisenbahnzug nach Treblinka so gut wie unmöglich war.
    Auf jene, die jetzt aus der Kolonne ausscherten, wurde sofort geschossen – nicht wenige blieben auf dem Straßendamm liegen. Aber dieses Risiko mußte man in Kauf nehmen. Ich gab Gustawa Jarecka, die mit ihren beiden Kindern in unserer Reihe stand, ein Zeichen, daß wir ausbrechen wollten, und sie uns folgen solle. Sie nickte. Schon wollte ich fliehen, doch den tödlichen Schuß befürchtend, zögerte ich noch einen Augenblick. Da zerrte mich Tosia aus der Reihe, wir rannten in das Tor eines schon im September 1939 zerstörten Hauses in dieser lieblichen, dieser Mila-Straße. Gustawa Jarecka folgte uns nicht, sie ist mit ihren beiden Kindern im Waggon nach Treblinka umgekommen.
    Andere aus unserer Kolonne, die etwas später als wir geflohen waren, berichteten, daß einer der Gendarmen auf uns zu schießen versucht habe. Haben uns seine Schüsse verfehlt? Hat sein Gewehr nicht funktioniert? Oder hat er, dieser Deutsche oder Österreicher, vielleicht nicht schießen wollen, hat er gar, die ihm erteilten Befehle ignorierend, Hemmungen gehabt, uns zu töten?
    Von dem Tor der Hausruine in der Mila-Straße sprangen wir in einen Keller, der zu unserer Verwunderung mit anderen Kellern verbunden war. Offenbar hatte man hier die Mauern durchbrochen, um einen Bunker zu bauen. So kamen wir in den letzten, von der Straße schon ziemlich weit entfernten Keller. Hier hörte man keine Schreie und keine Schüsse, hier war es vollkommen still – und hier blieben wir bis zum Abend. Niemand suchte uns.
    Abends konnte man dieses Versteck verlassen. Am nächsten Morgen verbargen wir uns zusammen mit einigen unserer Freunde in einem unbenutzten Haus des »Judenrates«, in dem Tausende von Büchern und Akten aus dem Archiv der alten jüdischen Gemeinde Warschaus lagerten. In dem großen Raum, zu dem nur ein Eingang existierte, verbarrikadierten wir uns – eben mit Hilfe von unzähligen uralten Büchern. Dort hofften wir, die »Aktion« zu überleben. In der Tat: Die Bücher haben uns das Leben gerettet.
    Möglich war dies, weil die »Zweite Aktion« schon am vierten Tag, also am 21. Januar 1943, nach der »Umsiedlung« von etwa fünf- bis sechstausend Juden, abgebrochen wurde. Die deutschen Befehlsstellen entschieden sich, sie nicht fortzusetzen, obwohl nur die Hälfte der auf dem »Umschlagplatz« wartenden Waggons nach Treblinka abgefahren war, die andere Hälfte aber weiterhin der SS zur Verfügung stand. Der Grund: Während dieser »Zweiten Aktion« hatte sich etwas ereignet, womit die Deutschen nicht gerechnet hatten – die Juden leisteten bewaffneten Widerstand. Doch war es klar, daß man die weitere »Umsiedlung« bloß verschoben hatte und daß die SS, nunmehr den bewaffneten Widerstand einkalkulierend, den Rest der Juden ermorden und das Getto endgültig liquidieren werde.
    Der Jüdischen Kampforganisation gehörte ich nicht an, doch an einer ihrer Widerstandsaktionen nahm ich teil – beinahe zufällig. Wenn man nach der Januar-Deportation dem sicheren Tod entgehen wollte, mußte man, das ließ sich jetzt weder verkennen noch verdrängen, unbedingt und so schnell wie möglich aus dem Getto fliehen. Aber damit ein Jude im »arischen« Teil der Stadt überhaupt

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