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Mein Leben

Mein Leben

Titel: Mein Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Reich-Ranicki
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existieren konnte, waren drei Voraussetzungen nötig. Erstens: Man brauchte Geld oder Wertsachen, um sich falsche Personaldokumente zu kaufen, ganz zu schweigen davon, daß man mit Erpressungen rechnen mußte. Zweitens: Man durfte nicht so aussehen und sich so verhalten, daß die Polen Verdacht schöpfen konnten, man sei ein Jude. Drittens: Man benötigte außerhalb des Gettos nichtjüdische Freunde und Bekannte, die zu helfen bereit waren.
    Wenn bei einem Juden, der in den »arischen« Stadtteil fliehen wollte, von diesen drei Voraussetzungen nur zwei zutrafen, dann war seine Situation schon bedenklich, wenn nur eine zutraf, dann waren seine Chancen minimal. Bei mir jedoch traf keine der drei Voraussetzungen zu. So war es in meinem Fall eigentlich sinnlos, zu fliehen. Ich hatte kein Geld und auch keine Freunde außerhalb des Gettos, und jeder – die Polen haben hierfür ein erstaunliches Gespür – erkannte in mir sofort einen Juden. Bei Tosia war es kaum besser. Nur meinten wir, sie würde nicht wie eine Jüdin ausschauen, doch bald mußten wir uns überzeugen, daß man sich darauf nicht verlassen konnte.
    Ich machte mir Gedanken, was man unter diesen Umständen ändern könnte. Vielleicht ließe sich rasch etwas Geld beschaffen? Wenige Tage nach dem Ende der »Zweiten Aktion« saßen wir mit zwei Freunden abends in der Mila-Straße in einem Keller und waren uns darin einig, daß unsere Lage hoffnungslos sei. Es sei doch ein Skandal, sagte ich beiläufig, daß der »Judenrat« immer noch wöchentlich Geld an die Deutschen zahle. Sollte man nicht die Kasse des »Judenrates« überfallen? Ganz ernst meinte ich es wohl nicht. Aber einer der Anwesenden, ein junger Mann, von dem ich wußte, daß er der Jüdischen Kampforganisation angehörte, zeigte sich sofort an der abenteuerlichen Idee interessiert. Er bat uns, vorerst mit niemandem darüber zu sprechen.
    Am nächsten Tag sagte er uns, daß man die Sache wahrscheinlich machen werde, nur müßten wir mithelfen. Ich hatte die für den Überfall benötigten Angaben zu liefern: über das Modell der Kasse im Haus des »Judenrates«, über den Zugang zum Kassenraum und über die Türschlösser. Im Gespräch mit dem Kassierer, den ich ganz gut kannte, hatte ich zu ermitteln, an welchem Tag die jetzt bevorstehende Geldübergabe an die deutsche Behörde erfolgen sollte. Ferner hatte ich Briefpapier des »Judenrates« zu entwenden, auf dem Tosia die Unterschrift des Obmanns fälschte – was ihr nicht schlecht gelang. Wozu die Organisation diesen Brief samt Unterschrift brauchte, sagte man uns nicht.
    Die Operation wurde in der Nacht vom 30. auf den 31. Januar durchgeführt, doch ganz anders, als wir es vermutet hatten: Kein Türschloß wurde aufgebrochen – und auch nicht die Kasse. Die Jüdische Kampforganisation hat eine mildere und bessere Lösung gefunden. Einige ihrer Mitglieder, verkleidet als jüdische Milizionäre, weckten den Kassierer nachts in seiner Wohnung und überreichten ihm ein Schreiben des Obmanns des »Judenrates«, das ihn aufforderte, sofort zu kommen und die Kassenschlüssel mitzubringen. Es seien, wurde dem erschrockenen Kassierer erklärt, plötzlich Deutsche erschienen, die eine größere Summe forderten. Er war mißtrauisch, tat dann aber, was man von ihm verlangte.
    Als am nächsten Morgen bekannt wurde, daß der jüdischen Organisation ein derartiger Überfall gelungen war und daß sie sich des für die Deutschen bestimmten Geldes – es waren über 100000 Zloty – bemächtigt hatte, war die allgemeine Freude groß. Der Obmann des »Judenrates« meldete den Vorgang sofort den deutschen Behörden. Sie schickten Spezialisten, die allerlei untersuchten und nichts herausfanden. Der Freund, der die Verbindung zur Jüdischen Kampforganisation hergestellt hatte, teilte uns mit, man habe beschlossen, den größten Teil der Beute für den Kauf von Waffen zu verwenden. Aber Tosia und mir wolle man als Anerkennung für unsere Idee und unsere Hilfe eine Prämie auszahlen – pro Person etwa fünf Prozent des beschlagnahmten Betrags. Dies solle uns die Flucht aus dem Getto erleichtern.
    Vor der »Zweiten Aktion« wollte ich die Möglichkeit, in den »arischen« Stadtteil zu fliehen, nicht recht ins Auge fassen: Ich fürchtete die ständige Abhängigkeit von jedem Nachbarn, von jedem Passanten, ich wußte wohl, daß mich jedes Kind denunzieren konnte. Die Wahrscheinlichkeit, daß ich außerhalb des Gettos rasch umkommen würde, betrage, glaubte ich, 99

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