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Mein Leben

Mein Leben

Titel: Mein Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Reich-Ranicki
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Prozent. Im Getto aber stand mir der Tod bevor, und zwar mit hundertprozentiger Sicherheit. Ich mußte diese minimale Chance wahrnehmen, wir mußten sie wahrnehmen. Zwischen Tosia und mir gab es in dieser Angelegenheit keinen Meinungsunterschied.
    Ein Musiker, ein ausgezeichneter Geiger, gab uns die Adresse einer polnischen proletarischen Familie, der es schlechtging und die bereit war, natürlich gegen eine angemessene Bezahlung, Juden zu beherbergen. Er selber wollte später ebenfalls aus dem Getto fliehen. Er ist in Treblinka umgekommen. Als wir uns verabschiedeten, sah er uns traurig an, aber er sagte kein Wort. Als wir schon an der Tür standen, nahm er seine auf einer Kommode liegende Geige in die Hand. Er spielte, wohl etwas langsamer und elegischer als sonst, die ersten Takte des Allegro molto aus Beethovens Quartett opus 59, Nr.3, C-Dur.
    Wie sollten wir die Gettogrenze überschreiten? Zwei Möglichkeiten kamen in Frage. Wir konnten uns einer Kolonne anschließen, die frühmorgens zur Arbeit ging; und wir mußten uns, wenn wir schon außerhalb des Gettos waren, von ihr lösen, das Armband mit dem Davidstern schnell wegwerfen und irgendwohin fliehen. Allerdings durften wir nicht das geringste Gepäck in der Hand haben, wir durften nichts mitnehmen. Die andere Möglichkeit: Man konnte nachmittags, etwa zwischen siebzehn und achtzehn Uhr, rauskommen, wenn die Arbeitskolonnen zurückkehrten und die Grenzposten ganz und gar von den leidenschaftlich betriebenen Leibesvisitationen in Anspruch genommen waren.
    Der zweite Weg hatte den Vorzug, daß man wenigstens ein kleines Köfferchen mitnehmen konnte. Natürlich mußte man die Grenzposten bestechen. Das erledigte der jüdische Milizionär, der die Flucht organisierte: Er erhielt die Bestechung und teilte den Betrag mit dem deutschen Gendarmen und mit dem polnischen Polizisten. Dies sagte er mir, als wir die Höhe der Bestechung aushandelten. Aber er hat mich betrogen: Er behielt das Geld für sich. Als seine angeblichen Teilhaber, der Deutsche und der Pole, uns auf dem mit Scheinwerfern stark beleuchteten Grenzbereich den Rücken zuwandten, rief er uns zu: »Jetzt geht geradeaus, schnell!« Das taten wir: Wir gingen schnell geradeaus. Wir hatten kaum mehr als zwanzig Schritte gemacht – und wir befanden uns schon außerhalb des Gettos. Es war der 3. Februar 1943. Was uns im nichtjüdischen Teil Warschaus erwartete, sollten wir schon nach zwei, drei Minuten erfahren.

 
Geschichten für Bolek
     
    Die Grenze, die die beiden Teile der Stadt Warschau trennte, hatten wir gerade eilig überschritten – und schon hörten wir von hinten das so harmlose wie schreckliche Wort: »Halt!«: Zwei Beamte der polnischen (von den Deutschen geduldeten und gebrauchten) Polizei, die man, nach der Farbe ihrer aus der Vorkriegszeit stammenden Uniformen, die »blaue« nannte, wünschten unsere Ausweise zu sehen. Ich sagte ohne Umschweife, wir hätten keine, wir seien Juden, eben aus dem Getto gekommen. Dann müßten sie uns zur deutschen Gendarmerie bringen.
    Wir erschraken, ohne gleich zu verzweifeln. Zwar wußten wir, daß jeder deutsche Wachtposten einen Juden sofort und ohne Umstände erschießen konnte, wir wußten aber auch, daß die »blauen Polizisten« zwar der deutschen Gendarmerie zu Diensten waren, jedoch in der Nähe der Gettoeingänge fleißig patrouillierten, weil sie flüchtende Juden erpressen wollten.
    Sofort begannen Verhandlungen, die einem Muster folgten, das vermutlich so alt ist wie die Polizei selbst. Der eine Polizist erwies sich als ein strenger Mann, der nicht mit sich reden ließ, der andere indes war durchaus gesprächsbereit. Von ihm bekamen wir auch zu hören, er würde es mit uns im stillen abmachen, nur sei sein Kollege leider sehr diensteifrig. Ein angemessener Betrag würde ihn vielleicht milde stimmen. Es lief darauf hinaus, daß wir die beiden bestochen und sie uns in einer Pferdedroschke dorthin gebracht haben, wo wir hinwollten. Während der Fahrt bekamen wir zu hören, wir seien schließlich alle Polen.
    Mit einer Bestechung hatte unser Leben im Warschauer Getto geendet; mit einer Bestechung begann unser Leben außerhalb des Gettos. Trotz der drohenden Todesstrafe haben damals nicht wenige Polen Juden aufgenommen und verborgen gehalten, in den meisten Fällen allerdings gegen ein sehr hohes Entgelt. Bei der proletarischen Familie, die uns der Musiker empfohlen hatte, konnten wir einige Tage bleiben. Auch dort wurden wir erpreßt und mußten so

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