Mein Leben
leichtsinnig, mehr noch: Es wäre geradezu wahnsinnig. Aber ich war verzweifelt, ich wußte keinen Ausweg. So bat ich ihn, mit seinem Bruder, dem Deutschen, zu reden. Zwar hätte ich kein Geld mehr, sehe aber Chancen, welches zu beschaffen. Kam diese meine Bitte dem Selbstmord gleich? Ich fürchtete es.
Er, der Feinmechaniker Antek, fuhr zu seinem Bruder. Nach drei Stunden war er wieder zurück, deutlich angetrunken: Sein Bruder habe sich alles angehört und vor allem wissen wollen, ob es sich etwa um einen Hausierer oder einen schmuddligen Händler handle. Nein, habe er ihm geantwortet, es handle sich um einen gebildeten Menschen, der gut reden könne und auch gut erzählen. Der Bruder hatte gesagt: »Na dann führ ihn mal her. Ich will ihn mir ansehen.«
Der Vorort, zu dem ich kommen mußte, war weit weg, auf der anderen, der rechten Seite der Weichsel. Man mußte mit der Straßenbahn bis zur Endhaltestelle fahren und dann noch ein Stück gehen. Wie sollte ich das bewerkstelligen, ohne unterwegs erkannt und denunziert zu werden? Antek, der hagere Halunke, war kein weltfremder Mensch. Der Trick mit dem »Völkischen Beobachter« – sagte er – sei hier nicht verwendbar: Ich solle mit der Straßenbahn nachmittags gegen fünf Uhr fahren, wenn sie überfüllt sei – und ich müßte, um nicht gleich angezeigt und zur Wache gebracht zu werden, ganz anders ausschauen: nicht wie ein jüdischer Intellektueller, sondern wie ein armseliger polnischer Prolet.
Er machte aus mir einen elenden Eisenbahner, der vom Dienst nach Hause fährt. Die schwarzen Haare, die ich damals noch hatte, mußten beseitigt werden, mein Kopf wurde kahl geschoren. Auf meine Brille mußte ich verzichten. Antek beschaffte mir eine alte Eisenbahnermütze und eine noch ältere Eisenbahnerjacke. Mein Gesicht wurde mit Ruß geschwärzt. In der Hand hielt ich eine große, rostige Zange. Von einem solchen etwas dreckigen Eisenbahner würden sich die Leute fernhalten.
So kam ich mit etwas Glück bis zur Endhaltestelle. Dort sollte ich Antek, der mit derselben Bahn gekommen und vor mir ausgestiegen war, im Abstand von zwanzig bis dreißig Metern folgen. Alles ging gut, nur führte er mich zu meinem Entsetzen wieder aus der Vorort-Siedlung hinaus und in den benachbarten Wald, dann immer weiter, kreuz und quer. Ausrauben konnte er mich nicht mehr, er wußte ja, daß ich nichts mehr besaß. Wollte er mich etwa umbringen? Ich traute es ihm zu. Aber wozu? Bald änderte Antek wieder die Richtung und brachte mich über Wiesen und Felder zur Siedlung zurück und zu einem einsam gelegenen Häuschen. Es war zwar kurz vor dem Zweiten Weltkrieg erbaut, doch gab es in ihm weder ein Badezimmer noch eine Toilette. Man mußte sich mit einer keineswegs immer funktionierenden Wasserleitung in der Küche behelfen und mit einem Plumpsklo. Den langwierigen, für mich angstvollen Umweg hatte Antek für nötig gehalten, um sich zu vergewissern, daß uns niemand folge, niemand beobachte.
Der Anblick desjenigen, der uns neugierig erwartete, überraschte mich. Anteks älterer Bruder, ein Mann von eher kleinem Wuchs, war ein ganz anderer Typ. In seinem Gesicht gab es nichts Brutales oder Drohendes, im Gegenteil: Er, Bolek, machte einen soliden, einen sympathischen Eindruck, er begrüßte mich höflich und freundlich. Rasch bot er mir ein Gläschen Wodka an, das ich schwerlich ablehnen konnte, obwohl mir ein Stück Brot entschieden lieber gewesen wäre.
Von Beruf war er Setzer, er hatte eine besonders schöne Handschrift, und er schrieb, damals in Polen unter einfachen Leuten eine Seltenheit, orthographisch einwandfrei. Er war, obwohl ich ihn nie mit einem Buch in der Hand gesehen habe, ein gebildeter Proletarier. Daß er während der Okkupation zu den zahllosen Arbeitslosen gehörte, versteht sich von selbst: Druckereien waren im Generalgouvernement so gut wie überhaupt nicht in Betrieb.
Boleks gleichaltrige, ziemlich derbe, etwas üppige und rothaarige Frau mußte in jüngeren Jahren schön gewesen sein. In jüngeren Jahren? Sie war nicht älter als 37, aber sehr vernachlässigt und schon deutlich vom Zahn der Zeit angegriffen. Zu meiner Verwunderung konnte sie flott lesen (anders als ihr Mann las sie auch Bücher, aber ausschließlich Kitschromane). Schreiben konnte sie überhaupt nicht, sogar mit ihrer Unterschrift hatte sie Schwierigkeiten – in Polen damals nicht ungewöhnlich.
Kaum hatten wir uns eine Viertelstunde unterhalten, da verblüffte mich Bolek mit einem ganz
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