Mein Leben
schnell wie möglich weiter.
Erpressung und Flucht – das wiederholte sich unentwegt. Tausende von Polen, häufig Halbwüchsige, die ohne Schule und ohne Universität aufwuchsen und oft auch ohne Väter, weil viele in Kriegsgefangenschaft waren, Menschen, die nichts gelernt und nichts zu tun hatten, verbrachten ihren Tag damit, alle Passanten mißtrauisch zu beobachten: Sie waren überall, zumal in der Nähe der Gettogrenzen, auf der Suche, auf der Jagd nach Juden. Diese Jagd war ihre Profession und wohl auch ihre Passion. Sie erkannten Juden, ohne sich zu irren. Woran denn? Wenn nicht andere Merkmale, dann seien es – so wurde gesagt – die traurigen Augen, an denen man sie erkenne.
Wollten diese rabiaten jungen Männer, für die der Okkupationsjargon das Wort »Schmalzowniks« erfunden hatte, ihre Opfer tatsächlich den deutschen Behörden ausliefern? Nein, daran war ihnen nicht sonderlich gelegen. Viel lieber wollten sie die Juden berauben, ihnen Geld, Schmuck und Wertsachen abnehmen oder wenigstens das Jackett oder den Wintermantel. Wenn ich mich auf der Straße sehen ließ, und sei es nur für Minuten, dann war ich sofort in höchstem Maße gefährdet. Aber irgendwie mußte ich von einem provisorischen Versteck zum nächsten kommen. Im Dunkeln ließ sich das nicht machen, weil um acht Uhr Polizeistunde war und es bald die Sommerzeit gab. Ich hatte eine simple, doch nicht ganz schlechte Idee: Ich beschaffte mir den »Völkischen Beobachter«, hielt ihn so, daß die Titelseite mit dem Hakenkreuz deutlich sichtbar war, und marschierte auf der Straße schnell, mit kräftigem Schritt und erhobenem Kopf. Die Erpresser und Denunzianten würden mich, hoffte ich, für einen wunderlichen Deutschen halten, den man lieber nicht anrempeln sollte.
Am 19. April 1943 brach im Getto der Aufstand aus, eine heroische und hoffnungslose Rebellion gegen die Unmenschlichkeit. Nachdem er von einem beträchtlichen deutschen Militäraufgebot, einschließlich Panzern, am 16. Mai endgültig niedergeschlagen worden war, gelang es manchen, aus dem Getto zu fliehen – vor allem durch die Kanalisation. Für die Erpresser und Denunzianten bedeutete dies Hochkonjunktur. Auch wir bekamen es zu spüren. Plötzlich trat in das Zimmerchen, in dem wir damals verborgen waren, mit großem Getöse ein junger Mann ein, ein hagerer Kerl in dürftiger Arbeitskleidung: Er rief theatralisch »Hände hoch« und verlangte Geld. Nachdem er sich unseres Bargelds – viel war es nicht – und meines Füllfederhalters bemächtigt und mir einige meiner Kleidungsstücke weggenommen hatte, wurde er friedlich. Jetzt hatte er offenbar das Bedürfnis, mit uns ein wenig zu plaudern. Nach einer Weile sagte er recht treuherzig, wir brauchten nicht davonzulaufen, er werde uns nichts mehr antun. Dann ging er weg. Er wohnte im selben Haus wie wir und ist sehr wahrscheinlich von dem Mann geholt worden, der uns verbarg: Die beiden teilten sich die Beute.
Es war klar: Wir durften hier nicht mehr übernachten, wir mußten fliehen – und zwar sofort. Aber ich wußte nicht, wohin, und ich hatte keinen Pfennig mehr. Ich blieb also, gänzlich resigniert. Am nächsten Tag ging wieder die Tür auf, diesmal ohne Getöse. Es war der üble, der gefährliche Nachbar, der brutal aussehende hagere Mann, der uns erpreßt hatte. Jetzt war er freundlich, nichts wollte er von mir – oder doch: Er wollte sich mit mir noch etwas unterhalten, über den Krieg vor allem, über dessen weiteren Verlauf und über das vermutliche Schicksal Polens. Was ich ihm zu sagen hatte, schien ihm zu gefallen. Von Beruf war er Feinmechaniker, zur Zeit arbeitslos. Seine Fragen schienen mir nicht unintelligent.
Am folgenden Tag kam er wieder. Er hatte Erfreuliches zu berichten – über angebliche deutsche Niederlagen. Dann bemerkte er, eher beiläufig: »Tja, wenn Sie Geld hätten, ließe sich schon etwas für Sie tun. Sie könnten ganz sicher sein – nämlich bei meinem Bruder.« Dieser wohne allein mit seiner Frau und seinen beiden Kindern in einem gemieteten Häuschen am Stadtrand. »Übrigens ist er ein Deutscher oder beinahe ein Deutscher. Den wird schon keiner verdächtigen, daß er Juden versteckt.«
Tosia war es inzwischen gelungen, »arische« Personaldokumente zu bekommen und als Dienstmädchen zu arbeiten. Sollte ich mich von einem Kerl unterbringen lassen, der mich (und mit Sicherheit auch andere) aufs gemeinste erpreßt hatte? Sollte ich mich ihm auf Gedeih und Verderb ausliefern? Das wäre
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