Mein Leben
schlichten und ganz ohne Nachdruck gesprochenen Satz: »Es wäre doch so schön, wenn Sie diesen schrecklichen Krieg hier bei uns überleben könnten.« Er sagte es im Juni 1943 – und so ist es auch geschehen: In seinem jämmerlichen Häuschen haben wir die deutsche Besatzung überlebt, hier wurde unser Leben gerettet – von Bolek, dem Setzer, und von Genia, seiner Frau.
Unser Leben? Zunächst war ich dort allein. Aber Tosias Karriere als Dienstmädchen konnte nicht erfolgreich sein. Ihre Eltern hatten sich mit ihrer Erziehung viel Mühe gegeben, sie hatte allerlei gelernt: Klavierspielen, Englisch, Französisch und natürlich auch Deutsch. Doch hatte sie nicht gelernt, wie man bügelt oder Kartoffeln schält und Gemüse putzt. Kein Wunder, daß sie mehrfach rasch entlassen wurde. Schließlich fand sie eine offenbar ganz gute Stelle. Aber sie konnte, als sie eines Tages allein in der Wohnung ihrer neuen Arbeitgeber war, einer Verlockung nicht widerstehen: Sie setzte sich ans Klavier und spielte einen Walzer von Chopin. Die vorzeitig zurückgekehrte Dame des Hauses hatte zwar eine Schwäche für Chopin, aber sie hatte noch nie eine Hausangestellte gesehen, die Klavier spielt. Sie zweifelte nicht, daß das neue Dienstmädchen eine Jüdin war, ja eine Jüdin sein mußte. Damit war Tosias berufliche Laufbahn im besetzten Warschau beendet. Ihre gefälschten Personalpapiere wurden unbrauchbar. Sie zögerte keinen Augenblick und langte nach wenigen Stunden in Boleks Häuschen an.
Tagsüber waren wir in einem Keller, einem Erdloch oder auf dem Dachboden versteckt, nachts haben wir für Bolek gearbeitet: Wir fertigten mit den primitivsten Mitteln Zigaretten an – Tausende, Zehntausende. Er verkaufte sie, machte jedoch nur geringen Gewinn. So lebten Bolek und seine Familie in Armut. Unser Elend indes war noch viel schlimmer: Wir hungerten. Wir glaubten tatsächlich, die KZ-Häftlinge hätten es zumindest in dieser Hinsicht ein wenig besser als wir. Denn sie bekamen täglich eine Suppe, wir jedoch mußten, wenn die Not besonders arg war, oft bis zum Abend warten, um etwas zu essen zu bekommen, und es waren mitunter nur zwei Mohrrüben. Aber schrecklicher als der Hunger war die Todesangst, schrecklicher als die Todesangst war die dauernde Demütigung.
Sowenig Geld auch da war – für einen Zweck mußte es immer reichen: Bolek konnte nicht einen Tag ohne Alkohol aushalten. Doch habe ich ihn zwar oft angeheitert, aber nie betrunken gesehen. Niemals haben wir befürchtet, er könne sich verplappern und uns gefährden oder uns gar plötzlich hinauswerfen. Auch Genia trank regelmäßig, sogar die beiden Kinder, damals sechs und acht Jahre alt, bekamen von Zeit zu Zeit etwas Wodka – damit sie sich »einübten«.
War dieser Bolek, wie uns sein Bruder Antek etwas geheimnisvoll bedeutet hatte, tatsächlich ein Deutscher? Den Deutschen, genauer, den Volksdeutschen, ging es im Generalgouvernement viel besser als den Polen. Sie profitierten auch von ganz anderen, erheblich besseren Lebensmittelkarten. Allerdings sprach Bolek, wie fast alle Polen, über die Volksdeutschen mit großer Verachtung: Es seien Menschen, die für die günstigen Lebensmittelkarten das Vaterland verraten hätten. Das Deutschtum der Familie war, mußten wir annehmen, eine Erfindung Anteks, des Wichtigtuers.
Auf die Kirche und die Pfarrer war unser Bolek besonders schlecht zu sprechen: »Sie saufen alle, aber uns einfachen Menschen gönnen sie den Wodka nicht.« Zu dieser Einsicht war er schon als Junggeselle gelangt: Als er kurz vor seiner Trauung, wie es sich gehörte, beichten wollte, wurde er von dem Pfarrer mit der nicht abwegigen Begründung abgewiesen, einem Betrunkenen könne er keine Beichte abnehmen. Bolek war tief verletzt und pflegte seitdem jedem, der es hören wollte, zu sagen: »Gauner sind sie alle – die katholischen Pfaffen und die evangelischen auch.« Mein Hinweis, daß die Evangelischen niemanden von der Beichte abweisen könnten – und warum sie es nicht könnten –, machte auf ihn keinen Eindruck: Schon in der Bibel heiße es, daß diese Gauner öffentlich Wasser predigten und heimlich Wodka tränken. »Aber Gott hat den Wodka für alle geschaffen, nicht nur für die Pfaffen« – meinte Bolek.
Wenn er etwas mehr als üblich getrunken hatte, pflegte er bedeutungsvoll und lauter als sonst zu sprechen. So blickte er uns eines Tages – wir waren noch nicht lange bei ihm – übermütig an und erklärte mit verwegener Miene,
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