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Mein Leben

Mein Leben

Titel: Mein Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Reich-Ranicki
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besonders langsam und nicht ohne Feierlichkeit: »Adolf Hitler, Europas mächtigster Mann, hat beschlossen: Diese beiden Menschen hier sollen sterben. Und ich, ein kleiner Setzer aus Warschau, habe beschlossen: Sie sollen leben. Nun wollen wir mal sehen, wer siegen wird.« Wir haben uns an diesen Ausspruch oft erinnert.
    Über den Verlauf des Krieges waren wir, trotz unserer ganz und gar isolierten Situation, nicht schlecht informiert. Bolek wiederholte uns alles, was die Nachbarn und Bekannten erzählten. Die zahllosen in Warschau umgehenden Gerüchte stammten meist von jenen, die es riskierten, einen Rundfunkapparat zu haben und den Londoner Sender zu hören. Die im Generalgouvernement in polnischer Sprache erscheinende Tageszeitung war dünn und dämlich. Besser war die deutschsprachige »Krakauer Zeitung« und deren regionale Version, die »Warschauer Zeitung«. Ich erklärte Bolek, es lohne sich, diese Zeitung zu kaufen, denn ihr sei über die wahre Kriegssituation der Deutschen mehr zu entnehmen als dem polnischen Blatt. Ich übersetzte ihm die wichtigeren Artikel – in stark vereinfachter und auch frisierter Fassung. Das soll heißen: Die Nachrichten und Artikel, die ich ihm referierte, mußten unbedingt erkennen lassen, daß die Niederlage der Deutschen und damit das Ende unserer Leiden sich von Tag zu Tag nähere.
    Hatte ich nur Düsteres mitzuteilen, dann drohte mir Bolek, er werde das Geld für die deutsche Zeitung nicht mehr ausgeben, er könne sich diesen Luxus nicht leisten. Ich gab zu, daß in diesem Blatt in der Tat zu wenig enthalten sei. Besser wäre es, er beschaffe eine andere deutsche Zeitung, »Das Reich«, dort sei ungleich mehr Wahrheit über den Krieg und die Deutschen zu finden. Er kaufte das »Reich«, zu dessen aufmerksamsten Lesern ich bald gehörte.
    Bolek kommentierte meine optimistisch gefärbten Berichte meist skeptisch. Die Deutschen, meinte er, würden den Krieg verlieren, das sei sicher – aber wir würden es nicht mehr erleben. Denn die Deutschen, der Teufel solle sie alle holen, seien noch stark, und die Alliierten hätten es leider nicht sehr eilig: »Diese Herrn treffen sich hier und da, sie haben es gemütlich: In Teheran gibt es für sie immer reichlich zu essen und genug Wodka. Sie haben es bestimmt auch warm. Deshalb dauert der Krieg so lange. Daß es in Warschau einen Setzer Bolek gibt, der zwei Freunde durchbringen möchte – das wissen diese Herrn nicht.«
    In dem Haus, in dem sich nur ein einziges Buch finden ließ – leider war es nicht die Bibel, sondern ein ganz sauberes, offenbar nie benutztes Gebetbuch –, las ich vor allem das Feuilleton des »Reichs«. Ich las es, offen gesagt, nicht ohne Vergnügen. Doch war dies nicht meine einzige Beschäftigung mit der Literatur. So unglaubhaft es auch anmuten mag – hier fand ganz unerwartet meine Wiederbegegnung mit der Literatur statt, mit der deutschen zumal.
    In Boleks Häuschen gab es zwar elektrisches Licht, aber es wurde in dem ganzen Vorort oft abgeschaltet. Man war dann auf Petroleum- oder Karbidlampen angewiesen, von denen man nur Gebrauch machte, wenn es für die Arbeit, also für das Herstellen von Zigaretten, benötigt wurde. So schlecht diese Beleuchtung auch war, billig war sie keineswegs. Also saß man im Dunkeln und unterhielt sich über alle möglichen Dinge, stets lauschend, ob sich nicht jemand dem Haus nähere.
    Eines Tages kam Boleks Frau auf die Idee, ich solle mal was erzählen, am besten eine spannende Geschichte. Von diesem Tag an erzählte ich täglich, sobald es dunkel geworden war, dem Bolek und seiner Genia allerlei Geschichten – stundenlang, wochenlang, monatelang. Sie hatten nur einen einzigen Zweck: die beiden zu unterhalten. Je besser ihnen eine Geschichte gefiel, desto besser wurden wir belohnt: mit einem Stück Brot, mit einigen Mohrrüben. Ich habe keine Geschichten erfunden, keine einzige. Vielmehr erzählte ich, woran ich mich erinnern konnte: In der düsteren, kümmerlichen Küche bot ich meinen dankbaren Zuhörern schamlos verballhornte und auf simple Spannung reduzierte Kurzfassungen von Romanen und Novellen, Dramen und Opern, auch von Filmen. Ich erzählte den »Werther«, »Wilhelm Teil« und den »Zerbrochnen Krug«, »Immensee« und den »Schimmelreiter«, »Effi Briest« und »Frau Jenny Treibel«, »Aida«, »Traviata« und »Rigoletto«. Mein Vorrat an Themen und Geschichten war, wie sich erwies, enorm, er reichte für viele, viele Winterabende.
    Ich konnte mich davon

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