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Mein Leben

Mein Leben

Titel: Mein Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Reich-Ranicki
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den Nachbarn häufig mit Wodka bewirtet – und darum ging es ihm. Mehr noch: Rasch wuchs sein Ansehen in der ganzen Siedlung – auch daran war ihm gelegen. Er war uns für die Hilfe dankbar, und wir waren froh, daß wir nützlich sein konnten.
    Im Juni 1944 sagte mir Bolek überraschend, er müsse mit mir über eine sehr ernste, eine gefährliche Angelegenheit reden. Das sah nicht gut aus, aber mir fiel auf, daß er in einem anderen Ton als sonst mit mir sprach. Er genierte sich, etwas war ihm wohl sehr unangenehm. Schließlich rückte er mit der Sprache heraus: Kurz bevor wir zu ihm gekommen waren, hatte er etwas getan, wovon wir bisher nichts wußten und was er nun nicht mehr verheimlichen konnte: Er hatte die Zuerkennung des Volksdeutschtums beantragt – für ihn, für seine Frau und für die beiden Kinder. Ein Onkel habe ihn dazu überredet, vor allem mit dem Hinweis auf die üppigen Lebensmittelkarten.
    In einer schwachen Stunde habe Bolek das Antragsformular unterschrieben, in trunkenem Zustand – was ich für durchaus wahrscheinlich hielt und was er nun, zu seiner Rechtfertigung, mehrfach wiederholte. Mit Deutschland hat er nie im Leben etwas zu tun gehabt, und er konnte natürlich kein Wort Deutsch. Jedoch: Genia war vor ihrer Ehe evangelisch – und das reichte im Generalgouvernement Polen aus, um als Volksdeutscher akzeptiert zu werden, zumal in den letzten Kriegsjahren, da kein Pole daran dachte, mit den Deutschen gemeinsame Sache zu machen.
    Monatelang blieb der Antrag unbeantwortet, Bolek hatte schon gehofft, das Ganze sei in Vergessenheit geraten. Da habe er plötzlich den Bescheid erhalten, seine Angelegenheit sei günstig erledigt: Er wurde aufgefordert, die deutschen Papiere und die entsprechenden Lebensmittelkarten sofort abzuholen. Er wußte nicht, was er tun sollte: Die sowjetische Armee hatte schon das Gebiet des ehemaligen polnischen Staates erreicht, man konnte sich leicht ausrechnen, daß sie innerhalb von einigen Wochen am Ufer der Weichsel stehen würde. Im befreiten Polen werde man die Verräter, die, vom Judaslohn gelockt, zum Feind übergelaufen waren, aufhängen oder zumindest in ein Lager sperren: »Wenn ich aber« – versuchte mich Bolek zu überzeugen – »diese Vorladung in den Lokus werfe und mich überhaupt nicht melde, dann werden die Deutschen, der Teufel soll sie holen, schon den Braten riechen. Die Gestapohunde werden mich rufen und verhören und vielleicht auch eine Hausdurchsuchung anordnen – und ihr seid geliefert.«
    Eine Hausdurchsuchung? Das schien mir übertrieben, doch nicht ganz ausgeschlossen. Jedenfalls war die Situation bedrohlich. Die Behauptung Anteks, sein Bruder sei ein Deutscher, war zwar nicht richtig gewesen, aber, wie sich herausstellte, auch nicht ganz aus der Luft gegriffen. Mein Ratschlag war einfach: Was geschehen sei, könne man nicht mehr ungeschehen machen. Er müsse das ihm jetzt fatalerweise zuerkannte Volksdeutschtum annehmen und es vor den Nachbarn und Bekannten strikt verheimlichen.
    Sollten wir überleben und sollte der wiedererstandene polnische Staat ihn wegen des verfluchten Volksdeutschtums zur Verantwortung ziehen, dann würde ich (versprach ich ihm) vor Gericht als Zeuge auftreten und unter Eid aussagen, daß er, Bolek, das Volksdeutschtum auf meine Bitte hin beantragt habe, um uns besser schützen und retten zu können. Doch ist alles anders gekommen: Niemand hat von Boleks peinlichem Fehltritt erfahren, seine Akten wurden offenbar während des Warschauer Aufstands von 1944 vernichtet. Der Meineid, den ich, ohne mit der Wimper zu zucken, geschworen hätte – er war nicht nötig.
    Inzwischen verfolgten wir mit wachsender Ungeduld den Vormarsch der Russen: Nur die sowjetische Armee konnte unser Leben retten. Je näher sie war, desto größer war unsere Furcht, noch im letzten Augenblick von den Deutschen aufgespürt und ermordet zu werden. Im August 1944 kam noch ein fataler Umstand hinzu: In der unmittelbaren Nachbarschaft des Häuschens, in dem wir verborgen waren, baute die Wehrmacht eine Verteidigungslinie auf. Die Hütten und Häuser wurden nacheinander gesprengt, ein Schußfeld sollte entstehen.
    Auch unser Haus hatte man für die Sprengung vorgesehen. Dies wäre für uns die allerschlimmste Katastrophe gewesen. Wo hätten wir, zwei ausgemergelte und in Lumpen gehüllte Juden, die überdies nichts besaßen, nicht einen Pfennig, denn Unterschlupf finden können? Wir wären wenige Wochen, vielleicht wenige Tage vor der

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