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Mein Leben

Mein Leben

Titel: Mein Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Reich-Ranicki
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überzeugen, welche literarische Figuren und welche Motive auf einfache Menschen wirkten. Bolek und Genia war es ganz gleichgültig, von wem die Geschichte über den alten König stammte, der sein Reich unter drei Töchtern aufzuteilen gedachte. Den Namen Shakespeare hatten sie nie gehört. Aber mit dem König Lear hatten sie Mitleid. Bolek dachte, wie er mir nachher verriet, an sich und seine Kinder – obwohl er buchstäblich nichts zu vererben hatte. Die Überlegungen und Konflikte Hamlets waren ihm hingegen fremd.
    Aber »Kabale und Liebe« hat ihn ernsthaft aufgeregt: »Weißt du, ich habe diesen Wurm gekannt, genau so einer hat in unserer Druckerei gearbeitet.« Zu meiner Verblüffung hat, auf ihn den größten Eindruck ein ganz anderes Drama gemacht – wohl auch deshalb, weil ich es mit besonderem Engagement und vielleicht besonders anschaulich erzählt habe. Als ich fertig war, äußerte er sich klar und entschieden:
    »Der Teufel soll die Deutschen holen, alle zusammen. Aber dieser Herr Hamburg, der gefällt mir. Er hat Schiß vor dem Tod – wie wir alle. Er will leben. Er pfeift auf Ruhm und Ehre. Ja, das gefällt mir. Ich sage es dir: Dieser Deutsche, der Teufel soll sie alle holen, ist der Mutigste von ihnen. Er hat Angst, aber er schämt sich nicht, er redet offen von seiner Angst. Solche, die leben wollen, die lassen auch andere leben. Ich glaube, dieser Herr Hamburg trinkt gern ein Gläschen Wodka und er gönnt auch anderen ein Gläschen. Schade, daß er nicht jetzt der Kommandant von Warschau ist. Dieser Deutsche, der Teufel soll sie alle holen, er würde niemanden hinrichten lassen. Komm, trinken wir auf die Gesundheit des deutschen Herrn Hamburg.«
    Er schenkte ein: je ein Gläschen Wodka, ausnahmsweise auch für Tosia und für mich. Jedes Mal, wenn ich am Kleinen Wannsee bin, denke ich an Bolek, der die Deutschen zu allen Teufeln wünschte und der auf das Wohl des Prinzen Friedrich von Homburg trank. Ich verneige mich im Geist – vor dem preußischen Dichter, der hier sein Leben beendete, und vor dem Warschauer Setzer, der sein Leben aufs Spiel setzte, um das meinige zu retten.
    Sosehr es mich freute, daß meine Geschichten die beiden Zuhörer interessierten, so sehr stimmten sie mich selber eher elegisch. Ich dachte, die Zeit, da ich die deutsche Literatur zu meinem Beruf hatte machen wollen, sei unwiederbringlich vorbei. Für solche Sorgen haben die Juden einen schönen Ausdruck: seidene Zores. Denn nach wie vor mußten wir täglich, ja, stündlich um unser Leben bangen. Es gab Tage, an denen Bolek das Ganze satt hatte und uns loswerden wollte. Hatte er Angst vor den Deutschen, fürchtete er, man werde uns finden und ihn erschießen? Natürlich spielte das eine wichtige Rolle, doch leichtsinnig wie er war, nahm er die schreckliche Bedrohung nicht gar so ernst. Aber es war aufrichtig, wenn er uns sagte: »Es geht nicht mehr. Ihr müßt euch auf den Weg machen. Wir haben euch eine Weile geholfen, jetzt sollen es andere tun. Sonst werden wir hier alle zusammen verhungern.«
    Wann immer er uns hinauswerfen wollte, redete Genia auf ihn ein: »Die sollen noch bei uns bleiben. So lange haben wir es zusammen durchgehalten, vielleicht werden wir es doch schaffen.« Wann immer Gema die Geduld verlor, war er derjenige, der verkündete: »Verflucht noch mal. Wir werden es schon schaffen, den Deutschen, der Teufel soll sie alle holen, zum Trotz.« Wir wurden weiter von unseren Beschützern verborgen gehalten, wir produzierten nach wie vor in nächtlichen Stunden Tausende von Zigaretten, und ich erzählte weiter an langen Abenden von liebenden Mädchen, jungen Prinzen und alten Königen, von Wintermärchen und Sommernachtsträumen.
    Nach wie vor mußten wir schrecklich hungern, auch dann, als eine Verwandte von Tosia auf komplizierten Umwegen kleine Beträge schickte. Mitunter reichte das Geld nicht einmal für den Wodka, den allerbilligsten. Plötzlich hatte Bolek einen originellen Einfall. Schulen existierten nicht, doch ließen viele Eltern ihre Kinder in Privatzirkeln unterrichten, die man »konspirative Kurse« nannte. Bolek bot den Nachbarn an, er könne deren Kindern die Schularbeiten abnehmen. Allerdings sei er zu nervös, um derartiges in Gegenwart der Kinder zu machen, er müsse die Hefte nach Hause mitnehmen. Die Aufgaben wurden dann von uns gemacht: Tosia war zuständig für polnische Grammatik und Aufsätze, ich für Rechnen und Arithmetik. Bolek bekam dafür kein Geld, wohl aber wurde er von

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