Mein Leben
hatte ich den Verdacht, sie sei zerstreut oder abwesend. Der Wechsel erfolgte stets blitzartig, ohne den geringsten Übergang.
Unser Gespräch dauerte rund zwei Stunden. Ich hatte viele Fragen vorbereitet, sie bemühte sich auf alle, ob sie ihr angenehm waren oder nicht, aufmerksam einzugehen. Aber je länger das Gespräch dauerte, desto mehr befürchtete ich, es werde für meine Arbeit über die Seghers nichts ergeben. Ich stellte konkrete Fragen – und erhielt ungenaue und unklare Antworten. Es waren eher emotionale Äußerungen, die man eventuell als ein wenig poetisch oder märchenhaft gelten lassen konnte.
Schließlich kamen wir zum »Siebten Kreuz«. Ich rühmte, ganz und gar aufrichtig, die novellistische Komposition des Romans. Anna Seghers winkte ab. Was ich da lobe, sei gar nicht ihr Werk, sie habe die Komposition von Manzonis Roman »Die Verlobten« übernommen. Sie empfahl mir dringend die Lektüre dieses Buches. Ich habe ihren Ratschlag noch in derselben Woche befolgt – und keine nennenswerten Analogien gefunden. Die Komposition der »Verlobten« mag sie tief beeindruckt haben, doch die Vorbildfunktion dieses Romans war wohl nur für sie selber erkennbar.
Aber der Hinweis auf Manzoni war das einzig Faßbare, das ich dem Gespräch über das »Siebte Kreuz« entnehmen konnte. Sonst hörte ich Banales und zwischendurch hilflose Wendungen. Ein Gedanke schoß mir durch den Kopf: Diese bescheidene, sympathische Person, die jetzt in breiter Mainzer Mundart gemächlich über ihre Figuren schwatzte, diese würdige und liebenswerte Frau hat den Roman »Das siebte Kreuz« überhaupt nicht verstanden. Sie hat keine Ahnung von der Raffinesse der hier angewandten künstlerischen Mittel, von der Virtuosität der Komposition. Einen Augenblick später irritierte mich ein anderer Gedanke: Es gibt Hunderttausende, vielleicht Millionen von Menschen, die diesen in zwanzig oder dreißig Sprachen erschienenen Roman nicht nur gelesen, sondern auch richtig verstanden haben, es gibt viele Kritiker, von denen er sachgerecht und intelligent und klug erläutert und gedeutet wurde. Doch gibt es nur einen einzigen Menschen, der ihn geschrieben, der ihn gedichtet hat. Als wir uns verabschiedeten, tat ich etwas, was in Deutschland nicht mehr üblich ist: Mich tief verneigend, küßte ich die Hand der Anna Seghers.
In den sechziger Jahren erzählte mir Ernst Bloch, was ihm widerfahren sei, als er im November 1911 bei Richard Strauss in Garmisch zum Abendessen eingeladen war. Strauss habe auf ihn den Eindruck eines gewöhnlichen und betriebsamen Menschen gemacht, eines eher simplen Lebensgenießers. Man sprach über die »Elektra«, aber es redete wohl nur der junge Bloch, während Strauss, der Klöße aß und Bier trank, sich aufs Schweigen verlegte. Nur ab und zu brummte er etwas, was der Gast als Zustimmung verstehen konnte. Es sei, sagte Bloch, ein »entsetzlicher« Abend gewesen. Plötzlich wurde er von einem schrecklichen Gedanken heimgesucht: Dieser Strauss, dieser bajuwarische Biertrinker, er hat von der subtilen, der erlesenen, der delikaten, der wundervollen Musik der »Elektra« rein gar nichts verstanden. Als Bloch dies feststellte, lachte er fröhlich, gewiß über sich selbst.
Was habe ich aus dem Gespräch mit Anna Seghers gelernt? Daß die meisten Schriftsteller von der Literatur nicht mehr verstehen als die Vögel von der Ornithologie. Und daß sie am wenigsten ihre eigenen Werke zu beurteilen imstande sind. Denn in der Regel wissen sie zwar, was sie ungefähr zeigen und verdeutlichen, erreichen und bewirken wollten. Dieses Wissen trübt ihren Blick auf das, was sie tatsächlich geleistet und geschaffen haben. Der Kritiker soll prüfen – so gründlich und so sorgfältig wie möglich –, was der Autor geschrieben hat. Was der Autor sonst über sein Werk zu sagen hat, sollten wir nicht ignorieren, indes auch nicht sonderlich ernst nehmen.
Aber ich habe damals noch etwas gelernt: Es gibt Literatur ohne Kritik, aber keine Kritik ohne Literatur. Anders ausgedrückt: Erst kommt das Fressen und dann die Moral, erst die Poesie und dann die Theorie, erst die Literatur und dann die Kritik. Weil es so ist, sollten wir uns hüten, zu unterschätzen oder gar zu vergessen, was wir ihnen verdanken – jenen Schriftstellern, die wirklich etwas zu unserer Literatur beigetragen haben.
Ich erinnere mich noch an zwei weitere Besuche aus Ost-Berlin: Zunächst kamen, schon im Februar 1952, Bertolt Brecht und Helene Weigel, im
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