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Mein Leben

Mein Leben

Titel: Mein Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Reich-Ranicki
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sei eine außerordentliche Schauspielerin, er werde sie nach Berlin holen, sie sei die ideale Besetzung für die Hauptrolle in seinem Stück »Die Gewehre der Frau Carrar«. Das möge ein glänzender Einfall sein, meinte ich, aber die Eichlerówna könne kein Wort Deutsch. Brecht verstummte nur für einen Augenblick und sagte dann: »Das macht nichts! Alle werden deutsch sprechen und sie polnisch. Das wird erst die wahre Verfremdung sein.« Natürlich ist nichts daraus geworden.
    An Polen war Brecht nicht im geringsten interessiert, für Sehenswürdigkeiten hatte er nichts übrig. Er kannte damals ein einziges Thema: sein Werk, sein Theater. Es gab für ihn eine einzige Frage: Was ließe sich machen, damit seine Dichtung in Polen übersetzt, gedruckt und vor allem aufgeführt werde? Er wollte nur mit Menschen sprechen, die dies ermöglichen konnten – mit Intendanten, Regisseuren und Schauspielern, mit Verlegern, Übersetzern und Journalisten.
    Sie alle berichteten übereinstimmend, Brecht sei ein leiser und sachlicher Gesprächspartner gewesen. Sie hätten ihn als einen hartnäckigen Geschäftsmann empfunden, der unbedingt seine Waren absetzen wollte, als einen tüchtigen Impresario des Dichters Bertolt Brecht.
    Von der charismatischen Ausstrahlung, die ihm oft nachgerühmt wurde – häufiger allerdings von Frauen –, habe ich in jenen Tagen, wenn ich mich recht entsinne, so gut wie nichts gemerkt. Nein, von Charme, so wollte mir scheinen, konnte bei Brecht schwerlich die Rede sein. Er hat mich weder fasziniert noch verzaubert. Aber Brecht hat mich, auch wenn dies ein Widerspruch sein sollte, aufs tiefste beeindruckt. Jenseits seiner Selbststilisierung und Selbstinszenierung, jenseits der komödiantischen Elemente war hier unentwegt eine souveräne, eine zielbewußte Energie spürbar, bei aller Gelassenheit ein unverkennbarer, ein beinahe schon unheimlicher Wille.
    So war seine Person von einer besonderen Aura umgeben. Sie wurde zwar oft beschrieben, aber sie läßt sich, wie meist in solchen Fällen, nicht erklären. In seinem frühen Tagebuch findet sich eine Eintragung aus dem Jahr 1921, die man von ihm kaum erwartet hätte: »Wo es kein Geheimnis gibt, gibt es keine Wahrheit.« Vielleicht hatte die für Brecht charakteristische Aura ihren Ursprung tatsächlich in einem Geheimnis, das sich nicht aufklären und nicht definieren läßt – in dem Geheimnis des Genies.
    Und vielleicht habe ich es schon damals gewußt oder zumindest geahnt: Nicht deshalb bemühte sich Brecht ein Leben lang um das Theater, weil es ihm um den Klassenkampf ging, wohl aber beschäftigte er sich immer wieder mit dem Klassenkampf, weil er ihn als Impuls und Thema für sein Werk benötigte. Nicht der Weltveränderer Brecht brauchte also das Theater und die Dichtung, wohl aber benötigte der Theatermann, der Dichter Brecht die angestrebte Weltveränderung oder den Marxismus als ideelles Fundament und als Zielvorstellung.

 
Josef K. Stalin-Zitate und Heinrich Böll
     
    Die Eisdecke, auf der ich mich bewegte, war dünn, sie konnte jederzeit zusammenkrachen. Wie lange würde es die Partei dulden, daß einer, den sie aus ideologischen Gründen ausgeschlossen hatte, laufend Kritiken publizierte, und dies, was nicht üblich war, ohne in einer Institution zu arbeiten, ohne dem Verband Polnischer Schriftsteller anzugehören oder dem Journalistenverband? Also bat ich, unsicher und ein wenig ängstlich, um Aufnahme in den Schriftstellerverband. Meine Überraschung war groß: Ich wurde sofort aufgenommen. Obwohl aus der Partei ausgeschlossen? Oder vielleicht – wie Kenner des polnischen Schriftstellermilieus mutmaßten – eben weil von der Partei verstoßen? Jedenfalls fühlte ich mich etwas sicherer.
    Aber Anfang 1953 gab es Schwierigkeiten. Irgendeine Zeitung wollte einen Artikel von mir nicht haben: Man sei zur Zeit mit Manuskripten ausreichend versorgt. In einer anderen Redaktion hörte ich, mein Aufsatz sei nicht aktuell genug. Woanders sagte man mir, man könne nicht mehr soviel über deutsche Literatur bringen. Endlich fand sich jemand, der den Mut hatte, mir die Wahrheit zu sagen: Die ältere Redakteurin einer Monatszeitschrift erklärte mir, meine seit mehreren Wochen liegende Kritik werde überhaupt nicht erscheinen, denn es dürfe nichts mehr von mir gedruckt werden. Sie überlasse es mir, dagegen eventuell Einspruch zu erheben. Wo sollte ich protestieren? Sie wollte mir nicht antworten.
    Wer hatte die Zeitungen und Verlage

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