Mein Leben
August 1956 kam Peter Huchel. Ich habe in Warschau mehrfach mit ihm gesprochen und habe ihn auch nach Kazimierz, einem besonders schönen und sehenswerten Ort an der Weichsel, begleitet. Im Grunde war Huchel, das spürte man gleich, ein unpolitischer Mensch – und auch ein unpolitischer Dichter. Die sozialen Fragen waren ihm keineswegs gleichgültig, sie spielen in seinem Werk eine wichtige Rolle. Aber er sah sie vorwiegend emotional, vielleicht sogar naiv. Es war der Terror der SED, der ihn gezwungen hat, in seinen späten Jahren einige politische Gedichte zu schreiben.
Am 15. August holte ich ihn vom Warschauer Ausländerhotel ab, dem Bristol. Er wartete auf mich unmittelbar vor dem Hoteleingang. Ich sagte ihm gleich: »Herr Huchel, ich habe leider eine traurige Nachricht. Ich habe sie gerade im Rundfunk gehört; Brecht ist gestorben.« Huchels Antwort kam sofort, wie aus der Pistole geschossen: »Um Gottes willen – was wird aus ›Sinn und Form‹ werden …« Ich mußte mein Entsetzen verbergen: Es hatte ihn nicht der Tod des größten deutschen Dichters unserer Zeit erschüttert, eines Dichters, der kaum 58 Jahre alt geworden war, sondern der Tod eines Beschützers und Förderers der von ihm, Peter Huchel, redigierten Zeitschrift »Sinn und Form«.
Wir haben uns später noch mehrfach getroffen, vor allem in den siebziger Jahren, als er in der Bundesrepublik lebte. Im Juli 1977 besuchte ich ihn in Staufen im Breisgau. Sein gesundheitlicher Zustand war noch ganz gut, wir gingen lange spazieren, er zeigte mir einen wunderbaren alten jüdischen Friedhof. Er sprach nur über zwei Themen – über sich selber und über die Zeitschrift »Sinn und Form«. Zwei Themen? In Wirklichkeit war es ein und dasselbe. So plante er auch ein Buch, das beides zugleich sein sollte: eine Autobiographie und eine Geschichte der Zeitschrift, die für ihn das Zentrum der Welt war. Viel wird wohl von der deutschen Literatur unserer Epoche nicht überdauern. Aber einige Gedichte von Peter Huchel werden bleiben.
Nicht nur von Huchel wußte man damals in Polen so gut wie nichts. Auch Brecht war beinahe unbekannt: Es gab kein einziges Buch von ihm in polnischer Übersetzung, nur ein einziges seiner Stücke war auf der Bühne zu sehen gewesen, und es blieb ohne nennenswerten Erfolg: die »Dreigroschenoper«, 1929 in Warschau. Es war nicht etwa das Interesse für das kommunistische Nachbarland oder für dessen immer noch furchtbar zerstörte Hauptstadt, was Brecht 1952 veranlaßt hatte, Warschau zu besuchen. Vielmehr war es das dringende Bedürfnis, das polnische Publikum mit seinem Werk bekannt zu machen und auch mit Inszenierungen des »Berliner Ensembles«.
Am Tag seiner Ankunft wurde ein Mittagessen gegeben – zu Ehren von Brecht, Helene Weigel und des gleichzeitig angekommenen DDR-Schriftstellers Hans Marchwitza, von dem freilich in Warschau niemand etwas wissen wollte. Die Tafelrunde war klein, die Enttäuschung groß. Denn Frau Weigel teilte uns, einigen Kritikern und Übersetzern, sogleich mit, Brecht fühle sich unwohl, er sei krank; wir sollten daher seine Abwesenheit entschuldigen.
Nach dem Essen bat mich Helene Weigel zu einem kurzen, vertraulichen Wortwechsel. Ich hatte zu Brechts Begrüßung in einer großen Warschauer Tageszeitung einen kleinen Artikel geschrieben, dessen deutsche Übersetzung, wie ich jetzt erfuhr, Brecht schon am Bahnhof vom Vertreter der Botschaft der DDR erhalten hatte. Dieser Artikel habe ihm, so Helene Weigel, außerordentlich gefallen. Kein Wunder, dachte ich mir, denn ich hatte den Gast ausgiebig gelobt und gerühmt. Nun könne aber Brecht leider niemanden empfangen. Doch für mich werde er eine Ausnahme machen. Ich solle mich noch heute um fünf Uhr im Hotel Bristol, Zimmer 93, melden. Dort werde er mir das gewünschte Interview erteilen.
Ich war sehr zufrieden – und erschien pünktlich. Zu meiner Überraschung sah ich vor der Zimmertür einen Bekannten, der als Übersetzer aus dem Deutschen tätig war. Ich schaute mich um und sah noch einen Bekannten, einen Verleger, der ebenfalls hier wartete. Und jemand war schon bei Brecht, ein Regisseur. Vermutlich hat jeder von uns gehört, nur er werde empfangen – und nun standen wir Schlange. Schließlich war ich an der Reihe.
Kaum hatte ich die Schwelle überschritten, und schon war ich erstaunt. Brecht saß hinter einem Tisch, auf dem eine große Schale zu sehen war – und in der Schale lag etwas, was es in Warschau im Jahre 1952 nicht gab, was
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