Mein Leben
populär, wie einst, unmittelbar vor 1933. Er wurde geschätzt, wenn auch immer noch, glaube ich, unterschätzt. Gerade war ihm der Büchner-Preis verliehen worden. Eine siebenbändige Ausgabe seiner »Gesammelten Schriften« wurde vorbereitet. Freilich machte er den Eindruck weniger eines würdigen als vielmehr eines höchst liebenswürdigen Menschen, schlank und charmant, flott und elegant. Wenn man bedachte, daß er 58 Jahre alt war, wirkte er erstaunlich jung.
Nachdem Kästner meine Fragen höflich beantwortet hatte, wollte er wissen, wie es mir im Krieg ergangen war. So knapp wie möglich berichtete ich ihm vom Warschauer Getto und kam gleich auf seine Gedichte zu sprechen. Ich zeigte ihm das handgeschriebene, das zufällig erhalten gebliebene und nun schon ziemlich ramponierte Exemplar seiner »Lyrischen Hausapotheke«. Er war überrascht und wurde schweigsam. Allerlei habe er sich vorstellen können, nicht aber, daß im Warschauer Getto seine Verse gelesen wurden, ja, daß man sie sogar von Hand kopierte – wie man im Mittelalter literarische Texte abgeschrieben hatte. Er war gerührt. Ich glaube, der smarte Poet hatte Tränen in den Augen.
Erst im Herbst 1963 sah ich ihn wieder: Wir waren Mitglieder der Jury eines »Deutschen Erzählerpreises«, den der »Stern« gestiftet hatte. Die Jurysitzungen fanden im Schloßhotel Kronberg bei Frankfurt statt. Als er ankam, stand ich zufällig an der Rezeption. Er begrüßte mich freundlich und rasch, wandte sich aber sofort ab, um einen doppelten Whisky zu ordern. Er wartete ungeduldig. Erst nachdem er ihn getrunken hatte, war er bereit, die Hotelanmeldung auszufüllen. Auch während der Jurysitzungen, die er meist aufmerksam verfolgte, ohne viel zu reden, trank er in regelmäßigen Abständen Alkohol.
Zum dritten und letzten Mal traf ich Kästner Ende Januar 1969. Der Norddeutsche Rundfunk hatte mich gebeten, ihn aus Anlaß seines siebzigsten Geburtstags für das Fernsehen zu interviewen. Die Aufzeichnung des Gesprächs wurde in einem Lokal gemacht, zu dessen Stammgästen er in seiner Berliner Zeit gehört hatte und auf das er bei verschiedenen Gelegenheiten gern zu sprechen kam – im Restaurant Mampe am Kurfürstendamm, zwischen der Joachimsthaler Straße und der Gedächtniskirche. Damals sah dieses Lokal noch aus wie vor dem Krieg. Kästner kam pünktlich und, so schien es mir jedenfalls, flott wie immer. Er sah recht gut aus, man konnte ihn für einen Sechzigjährigen halten. Doch in Wirklichkeit war sein Zustand traurig und bedauernswert. Schon im Vorgespräch fiel es ihm schwer, sich zu konzentrieren, seine Antworten waren nichtssagend und etwas wirr. Ich bekam fast nur klischeehafte Wendungen zu hören, ich war erschüttert. Wahrscheinlich fürchtete ich das uns bevorstehende Fernsehgespräch noch mehr als er.
Ich versuchte, ihn auf alle Fragen, die ich ihm stellen wollte, vorzubereiten. Doch die meisten dieser ganz einfachen Fragen kamen ihm zu schwierig vor, zu ihnen, sagte er wiederholt, würde ihm doch nichts einfallen. Er tat mir leid in seiner kaum getarnten Ratlosigkeit. Ich wollte ihm helfen, ihm soweit wie möglich die Situation erleichtern. Auch die Leute vom Norddeutschen Rundfunk waren sehr geduldig – vielleicht deshalb, weil sie alle, wie sich bald herausstellte, »Emil und die Detektive« gelesen hatten. Die Phrasen, die Kästner schließlich ins Mikrophon stotterte, ließen gleich erkennen, daß sein Gedächtnis kaum noch funktionierte. Wir konnten nichts anderes tun, als alles aufzuzeichnen. Insgesamt waren es etwa vierzehn Minuten. Davon ließen sich letztlich nicht mehr als zwei oder drei Minuten senden – und auch diese waren kümmerlich. Nachdem er die ganze Zeit über Alkohol getrunken hatte, war er nun vollkommen erschöpft. Was er lallte, konnten wir nicht verstehen. Dann bemühte er sich aufzustehen. Man mußte ihn stützen. Die Kellner sahen schweigend zu. Wir brachten ihn ins Taxi. Als ich ihm zum Abschied die Hand drückte, versuchte er zu lächeln.
Einige Tage später erhielt ich von Kästner einen Brief: In dem Umschlag fand sich der Faksimile-Druck eines neuen, eines harmlosen Gelegenheitsgedichts, betitelt »An die Gratulanten«. Es endet mit den Versen: »Bin gerührt und trotzdem heiter. / Danke sehr. Und mache weiter.« Offenbar wollte er noch ein persönliches Wort hinzufügen, und so schrieb er unter dieses Gedicht: »Lieber Fachmann, ›Mampe‹ ist ein nettes Lokal, und wir sind reizende Leute. Ihr Kästner.«
Am
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