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Mein Leben

Mein Leben

Titel: Mein Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Reich-Ranicki
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May, frei vom Exotischen, vom Pathetischen und vom Bombastischen. Was Kästner erzählte, spielte sich nicht in fernen Zeiten und Ländern ab, es passierte hier und heute: auf Berliner Straßen und Höfen, also dort, wo wir uns auskannten. Die Personen, die hier auftraten, sprachen wie wir alle, die wir in der Großstadt aufwuchsen. Das ist es: Die Glaubwürdigkeit dieses Buches und somit auch sein Erfolg beruhten vor allem auf der Authentizität der Alltagssprache.
    Die etwas später geschriebenen Kinderromane von Kästner, vor allem »Pünktchen und Anton«, haben mir auch gefallen, ohne mich ebenso stark zu beeindrucken. Sein Name freilich war bald nicht mehr zu hören. Als seine Bücher am 10. Mai 1933 auf dem Platz vor der Berliner Staatsoper verbrannt wurden, stand er inmitten der vielen Menschen, die Zeuge des in der Neuzeit einzigartigen Schauspiels sein wollten. Gleichwohl blieb er in Deutschland. Wenn aber in manchen Nachschlagebüchern der deutschen Exilliteratur Kästner als Emigrant angeführt wird, so hat dies, obwohl falsch, dennoch seine Ordnung: In der Zeit von 1933 bis 1945 hatte er, der Mann zwischen den Stühlen, sich klar entschieden. Nicht er war emigriert, doch waren es seine Bücher – sie konnten damals nur in der Schweiz erscheinen. Erich Kästner war Deutschlands Exilschriftsteller honoris causa.
    So kamen mir seine Schriften in jenen Jahren nur selten in die Hände. Es gab sie nun weder in den Stadtbibliotheken noch in den Buchhandlungen; freilich konnte man sie in manchen Antiquariaten für ein paar Pfennige erstehen: Die jetzt unwillkommenen Titel wurden unter der Hand verramscht. Doch las ich Kästner nicht mehr, ich war ihm, glaubte ich, mittlerweile entwachsen, auch seinen Gedichten. Vergessen konnte ich ihn allerdings nicht.
    Daß die Zeit meiner Zuneigung im Grunde nichts anhaben konnte, zeigte sich überraschend einige Jahre später – im Warschauer Getto. Ich hatte einen Bekannten besucht, von dem ich irgend etwas brauchte. Bei ihm fand ich, womit ich nicht gerechnet hatte: deutsche Bücher. Plötzlich fiel mir ein kleiner, schmucker Band auf: »Doktor Erich Kästners Lyrische Hausapotheke«, 1936 in Zürich veröffentlicht. Sofort las ich das Gedicht, das die Sammlung eröffnet: das »Eisenbahngleichnis«. Es beginnt: »Wir sitzen alle im gleichen Zug / und reisen quer durch die Zeit.« Und es endet: »Wir sitzen alle im gleichen Zug. / Und viele im falschen Coupe.«
    Ich wollte dieses Buch unbedingt haben, ich hätte es mir sofort gekauft, wenn dies nur möglich gewesen wäre. Nein, erwerben konnte ich den Band nicht, er ließ sich auch in keinem Antiquariat im Getto finden. Immerhin bekam ich ihn geliehen – für eine begrenzte Zeit, versteht sich. Ein Mädchen, das Teofila hieß, aber Tosia genannt wurde und von dem hier noch mehr als einmal die Rede sein wird – Tosia also hat Kästners »Lyrische Hausapotheke« für mich von Hand kopiert. Sie hat die Gedichte auch illustriert und schließlich die Blätter sorgfältig geheftet. Das so entstandene Buch erhielt ich zu meinem einundzwanzigsten Geburtstag am 2. Juni 1941 im Warschauer Getto. War mir je ein schöneres Geschenk zugedacht worden? Ich bin nicht sicher. Doch nie habe ich eins bekommen, auf das mehr Mühe verwendet wurde – und mehr Liebe.
    Da saßen wir also zusammen, Tosia und ich, und langsam und nachdenklich lasen wir in dunkler Nacht und bei kümmerlicher Beleuchtung diese deutschen Verse, die sie für mich abgeschrieben hatte. Von einem nahe gelegenen Gettoeingang hörten wir ab und zu deutsche Schüsse und jüdische Schreie. Wir zuckten zusammen, wir zitterten. Aber in jener Nacht lasen wir weiter – die »Lyrische Hausapotheke«. Uns, die wir die Liebe noch nicht lange kannten, entzückte die etwas wehmütige, die dennoch wunderbare »Sachliche Romanze«.Wir lasen also von den beiden, denen die Liebe nach acht Jahren plötzlich abhanden gekommen war »wie andern Leuten ein Stock oder Hut« und die das einfach nicht fassen konnten. Wir dachten an unsere gemeinsame Zukunft, die es, davon waren wir überzeugt, gar nicht geben konnte – es sei denn, vielleicht, in einem Konzentrationslager. Wir lasen die irritierenden Fragen »Kennst du das Land, wo die Kanonen blühn?« und »Wo bleibt das Positive, Herr Kästner?« Wir lächelten über die Charakteristik des Strebers (»Die Ahnen kletterten im Urwald. / Er ist der Affe im Kulturwald«). Wir erschraken vor der Mahnung: »Nie dürft ihr so tief sinken, / von

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