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Mein Leben

Mein Leben

Titel: Mein Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Reich-Ranicki
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wurde Knick in die HJ-Gebietsführung (oder eine ähnliche Dienststelle) vorgeladen und kurz darauf auch von der Gestapo vernommen. Er berief sich auf sein christliches Gewissen. Das half ihm nicht viel: Man warnte ihn, ja man drohte ihm. Die Folgen ließen nicht lange auf sich warten: Mit Ende des Schuljahres wurde er versetzt – ans Hohenzollern-Gymnasium, ebenfalls in Berlin-Schöneberg.
    Keinem meiner Lehrer aus den Jahren 1930 bis 1938 verdanke ich so viel wie diesem Doktor Knick. Ob er aus der Jugendbewegung kam, wie erzählt wurde, weiß ich nicht, aber etwas Jugendbewegtes hatte er immer: Er war in jenen Jahren Anfang oder Mitte Fünfzig, groß und schlank, das schon spärliche Haar blond, die Augen hellblau. Früher wurde er, wie ältere Schüler zu berichten wußten, »der blonde Schwärmer« genannt. Das war er in der Tat: ein Schwärmer, ein Enthusiast, einer vom Geschlecht jener, die glauben, ohne Literatur und Musik, ohne Kunst und Theater habe das Leben keinen Sinn. Die Dichtung seiner Jugendzeit hatte ihn geprägt: Rilke, Stefan George und das von ihm mit milder Nachsicht geliebte Frühwerk Gerhart Hauptmanns. Die George-Verse »Wer je die Flamme umschritt / Bleibe der Flamme Trabant!« klangen, von ihm gesprochen, nicht wie eine Mahnung, sondern wie ein glühendes Bekenntnis.
    Reinhold Knick war nicht nur ein vielseitiger und hervorragender Pädagoge – er lehrte Mathematik und Physik, Chemie und Biologie ebenso wie Deutsch –, sondern auch ein musischer Mensch, ja ein Künstler, nämlich ein Regisseur, ein Schauspieler und ein Musiker. Von seiner Rezitationskunst haben wir Schüler häufig profitiert, da er uns, ob es der Lehrplan vorsah oder nicht, gern literarische Texte vortrug, zumal humoristische. So amüsierte er uns mit Wilhelm Buschs Poem »Balduin Bählamm«. Als er den ersten Akt des »Biberpelz« vorlas, lachte die ganze Klasse. Mehr noch: Wir verstanden sofort, was der Begriff »Naturalismus« bedeutete. Zugleich übte Knick damit Einfluß auf meine Lektüre aus: Begeistert vom »Biberpelz«, las ich gleich etwa ein halbes Dutzend der Dramen Hauptmanns. Mehr noch: Ich begriff, daß Literatur unterhaltsam sein darf – und sein sollte. Ich habe es nie vergessen.
    Noch zu meinen Zeiten wurde von den Theatervorstellungen, die Knick in den zwanziger Jahren in der Aula unserer Schule veranstaltet hatte, viel und enthusiastisch gesprochen. Der erfolgreiche Berliner Theaterdirektor und Regisseur Victor Barnowsky, der von diesen Aufführungen gehört hatte, sah sich eine an und fand sie so beachtlich und originell, daß er dem Dilettanten sofort anbot (es war 1923 oder 1924), an dem von ihm geleiteten Lessing-Theater ein Stück zu inszenieren. Er überredete den zunächst Zögernden und war sicher, eine sensationelle Entdeckung gemacht zu haben.
    Aber nach wenigen Proben gab Knick auf: Er bat um Auflösung des Vertrags. Denn schon diese Proben hätten ihm gezeigt, daß er nicht imstande sei, das Theater, das ihm vorschwebte, mit Berufsschauspielern zu realisieren: Sie seien in der Regel allzu sehr auf Effekte aus. Er ziehe es daher vor, weiterhin mit Schülern und mit Laien zu arbeiten.
    Nur eine seiner Inszenierungen habe ich gesehen: 1936, als ich schon am Fichte-Gymnasium war und Knick am Hohenzollern-Gymnasium arbeitete, führte er dort Shakespeares »Sturm« auf. Er selber spielte den Prospero. Ich war sehr beeindruckt, indes nicht entzückt. Als ich ihn wenig später besuchen durfte, wollte ich über meine Bedenken, die nicht etwa Details betrafen, offen reden.
    Knick hatte den Text stark bearbeitet und, unter anderem, den Epilog Prosperos mit der Schlußzeile aus Hebbels »Nibelungen« enden lassen: »Im Namen dessen, der am Kreuz erblich.« Eine derartige Christianisierung Shakespeares schien mir ein Stilbruch und auf jeden Fall unzulässig. Zu meiner Verwunderung gab er mir sofort recht. Aber er fügte hinzu: Angesichts dessen, was sich in Deutschland zur Zeit abspiele, genüge es nicht, gutes Theater zu machen. Vielmehr komme es darauf an, mit dem Theater an Ideale zu erinnern, die jetzt wichtiger denn je seien. Daher habe er den Stilbruch in Kauf genommen.
    Ich erlaubte mir noch einen Einwand: Im »Sturm« seien doch zwei Welten gegeneinander gestellt – eine zarte und vornehme, nachdenkliche und melancholische mit Prospero, seiner Tochter Miranda und dem Luftgeist Ariel im Mittelpunkt und eine ziemlich vulgäre, teils plebejische und teils animalische Welt um den mißgestalteten

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