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Mein Leben

Mein Leben

Titel: Mein Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Reich-Ranicki
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Sklaven Caliban, den Spaßmacher Trinculo und den immer betrunkenen Kellermeister Stephano. Mich interessiere in diesem Stück die poetisch-intellektuelle Welt, zu jener anderen, der derben und primitiven, fehle mir die Geduld, sie stoße mich eher ab. Er, Knick, habe in seiner Inszenierung gerade die simplen und ordinären Elemente leider breit ausspielen lassen und damit ein Gleichgewicht hergestellt, das dem »Sturm« nicht nütze, sondern schade.
    Er hörte sich alles aufmerksam an, war keineswegs ungehalten und sagte mir, dem wohl allzu vorlauten Fünfzehn- oder Sechzehnjährigen, etwa folgendes: »Ich verstehe dich gut, aber du verkennst die Realität. Die menschliche Gesellschaft besteht nicht nur aus den Repräsentanten des Geistes wie Prospero mit seiner großen Bibliothek, dazu gehören auch solche Wesen wie Caliban, sowenig er dir gefallen mag. Das sind zwei Seiten derselben Sache, und beide sind wichtig. Paß auf – heute zumal –, daß du nicht nur die eine Seite wahrnimmst und die andere übersiehst. Ich glaube, du hast eine große Schwäche für die Intellektuellen. Dagegen ist nichts zu sagen, nur muß man diese Schwäche in Grenzen halten – und man muß sich hüten, alles andere zu übersehen.« Den »Sturm« habe ich noch häufig auf der Bühne gesehen, die beste Inszenierung war wohl 1960 in Hamburg, mit Gründgens als Prospero. Aber es blieb dabei: Ich empfand Respekt, ohne mich für das Stück erwärmen zu können. Man muß sich damit abfinden: Es gibt weltberühmte Werke, vor denen man sich verneigt, ohne sie zu lieben.
    Ich habe Knick noch mehrfach in seiner Steglitzer Wohnung besuchen dürfen – stets um 17 Uhr nachmittags, und stets klopfte um 18 Uhr seine Frau an die Tür, zum Zeichen, daß ich mich zu verabschieden hatte. Um die mir zur Verfügung stehende Zeit gut zu nutzen, bereitete ich mich jedesmal gründlich vor. Ich kam immer mit einem Zettel, auf dem viele Namen und Titel notiert waren. Ich berichtete ihm von meiner Lektüre, er bestätigte oder korrigierte meine Eindrücke und Urteile. Warum hat er sich eigentlich soviel Mühe mit mir gegeben? Machte es ihm Spaß, meine Fragen zur Literatur zu beantworten? Ich glaube, da war noch ein anderer Grund: Daß er sich meiner so annahm, hatte wohl auch mit dem »Dritten Reich« zu tun, mit der Verfolgung der Juden.
    Während des Krieges habe ich oft an Knick gedacht, an seine Empfehlungen und Warnungen. Als ich Anfang 1946 zum ersten Mal wieder in Berlin war, fuhr ich sofort nach Steglitz. Natürlich fragte er mich, wie ich überlebt hätte und wie es meiner Familie ergangen sei. Schweigend hörte er sich meinen kargen Bericht an. Darüber, was die Nazis ihm und den Seinigen angetan hatten, wollte er dann nicht mehr sprechen. Nach Kriegsschluß hatte man ihn befördert: Er war nun Gymnasialdirektor.
    Ganz beiläufig bemerkte er, daß er jetzt oft Besuch bekomme. Die Gäste trügen meist amerikanische oder englische Uniformen. Es seien seine früheren jüdischen Schüler. Sie alle – sagte er – redeten viel von Dankbarkeit. Doch letztlich wisse er nicht, wofür sie ihm denn dankbar seien.
    Ich kann es mir schon denken, aber ich will hier nur für mich sprechen: Er, Reinhold Knick, war der erste in meinem Leben, der repräsentierte und verkörperte, was ich bis dahin nur aus der Literatur kannte – die Ideale der deutschen Klassik. Oder auch: den deutschen Idealismus.
    Daß die Realität im »Dritten Reich« die Begriffe und Vorstellungen, das Gedankengut der deutschen Klassik auf so brutale, auf barbarische Weise in Frage stellte und widerlegte, versteht sich von selbst. Niemand hat dies, wenn man von den Kommunisten absieht, so schnell und so schmerzhaft zu spüren bekommen wie die Juden. Sie wurden unentwegt verunglimpft und diskriminiert: Keine Woche, kein Tag verging ohne neue Anordnungen und Verfügungen, und das heißt: ohne neue Schikanen und neue Demütigungen der unterschiedlichsten Art. Die Juden wurden aus dem deutschen Volk – man sprach jetzt immer häufiger von der »Volksgemeinschaft« – systematisch ausgeschlossen.
    Damals, in den ersten Jahren nach der nationalsozialistischen Machtübernahme, suchten nicht wenige der Erniedrigten und Verfolgten Schutz und Zuflucht beim Judentum: Was ihnen schon gleichgültig geworden war, wovon sie sich sogar entschieden abgewandt hatten, gewann jetzt für sie eine neue Bedeutung. So fanden sich zum Gottesdienst in den Synagogen nun ungleich mehr Menschen ein – und es waren

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