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Mein Leben

Mein Leben

Titel: Mein Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Reich-Ranicki
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Freundschaft
     
    Daß ich mich seit der Tagung im Herbst 1959 dem Kreis um Hans Werner Richter zugehörig fühlte, daß ich die »Gruppe 47« fast schon als eine Art Heimat empfand, mir dies jedenfalls leichtsinnig einbildete, das hat mit einem Teilnehmer zu tun, den ich damals zum ersten Mal sah. Er saß zufällig nicht weit von mir. Es ergab sich, daß ich mich mit ihm, noch bevor wir miteinander die ersten Worte gewechselt hatten, über die vorgelesenen Texte verständigte: Unsere Blicke trafen sich immer wieder. In einer Pause kamen wir ins Gespräch. Und wir blieben im Gespräch; dreißig Jahre lang. Es ist die Rede von Walter Jens.
    Eine Krankheit, an der er seit seiner frühesten Kindheit leidet, hat seine Persönlichkeit geprägt und somit auch sein Werk: Asthma. Das Leiden hatte zur Folge, daß er, wie er einmal sagte, jeden Tag nach Luft ringen mußte. Ich glaube nicht zu übertreiben, wenn ich sage, daß man nicht nur jedem seiner Bücher, ob sie nun mehr oder weniger bedeutend sind, ja, daß man im tieferen Sinne allem, was er getan und geleistet hat, diese ständige Atemnot anmerken kann. Seine Mutter, von Beruf Lehrerin, war, wie man mir erzählte, eine bescheidene und zugleich überaus ambitionierte Frau, die sich vorgenommen hatte, ihren Ehrgeiz auf den kranken Sohn zu übertragen. Sie soll dem Kind immer wieder gesagt haben: »Du bist ein Krüppel – und deshalb mußt du ein Geistesriese werden.« Was zum Wesen und Charakter eines jeden Schriftstellers gehört, wurde bei ihm, Walter Jens, von Anfang an systematisch entwickelt und konsequent angetrieben: ein Geltungsbedürfnis, das in Geltungssucht übergehen kann.
    Dieses Bedürfnis – das ist zumindest sehr wahrscheinlich – hat sein Verhältnis zur Wissenschaft und zur Literatur, zur Politik und zur Kirche geprägt, ja, es hat wohl sein ganzes Leben bestimmt. Daß er sich zur Verwunderung vieler seiner Kollegen nie lange bitten ließ, dieses oder jenes Ehrenamt zu bekleiden, hat mit der extremen Geltungssucht zu tun. Sie war beides zugleich und ist es noch heute – seines Daseins Glück und Unglück. Ob seine während des Krieges gefällte Entscheidung, klassische Philologie zu studieren, richtig war, darüber hat er, glaube ich, oft nachgedacht. Rasch hat Jens begriffen, daß ihm dieses Fach nicht jenes öffentliche Forum bieten konnte, das er dringend brauchte, nach dem er sich sehnte. Damit hatte es wohl zu tun, daß er sich schon 1950 bei Richter meldete und an einer Tagung der »Gruppe 47« teilnehmen wollte.
    Er wurde eingeladen, aber er paßte nicht in diesen Kreis. Inmitten von ehemaligen Soldaten der Wehrmacht war er der einzige Zivilist. Nahezu alle waren aus Diktatur und Krieg zurückgekommen. Jens gehörte der gleichen Generation an, doch hatte er, der Asthmakranke, den Krieg nur aus der Distanz gesehen und miterlebt: »Und diese Distanz war es« – erinnert sich Hans Werner Richter –, »die ihn von uns unterschied.« Überdies: Inmitten von Autodidakten war Jens ein Akademiker, ein Dozent der Universität Tübingen.
    Richter meinte, Jens habe sich in der »Gruppe 47« als »Fremdkörper« empfinden müssen. Aber Richter, sonst ein guter Menschenkenner, sah dies falsch. Jens interessierte sich beinahe immer für andere Menschen. Aber in der »Gruppe 47« wie auch später in anderen Kreisen und Milieus war er so sehr mit sich selbst beschäftigt, daß er das Verhältnis der Umwelt zu ihm in der Regel eher flüchtig wahrnahm und sich in dieser Hinsicht oft Illusionen machte. In Jurys, die über eine Auszeichnung von Jens diskutierten, fiel mir auf, daß gerade jene Juroren, die er für seine ihm ergebenen Freunde hielt, oft mit Entschiedenheit gegen ihn plädierten. Nicht selten glaubte er von Menschen geschätzt zu werden, deren Urteil über ihn keineswegs günstig war.
    Daß er in der »Gruppe« isoliert war, wollte Jens nicht zur Kenntnis nehmen, und so hat er wohl kaum daran gelitten. Dennoch mochte es ihm gelegen kommen, daß in der »Gruppe 47« ein Neuling auftauchte, der nicht nur einsam und allein war, sondern auch aus dem Rahmen fiel. Da äußerte sich über deutsche Literatur ein Fremdling, dessen Situation sich mit jener von Walter Jens zwar nicht vergleichen ließ, aber ihr doch ein klein wenig ähnelte: Trotz aller offenkundigen Unterschiede galt Richters Wort über mich – »er blieb irgendwie ein Außenseiter, einer, der dazugehörte und doch nicht ganz dazugehörte« – eben auch für Jens.
    Es dauerte nicht

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