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Mein Leben

Mein Leben

Titel: Mein Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Reich-Ranicki
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derartiges mißbilligte und verabscheute, versteht sich von selbst. In seinen Äußerungen über solche letztlich für ihn unbegreiflichen Praktiken kamen stets zwei Vokabeln vor: »unappetitlich« und »unhygienisch«. Sollte sich Jens in ein Bordell verirren – natürlich nur als neugieriger Tourist –, würde er dort, befragt, was er trinken wolle, sehr wahrscheinlich antworten: »Kamillentee«.
    Als nach Tübingen ein jüdischer Theologe kam, lud er ihn zum Abendessen ein. Einem solchen Gast mußte man, versteht sich, ein koscheres Essen vorsetzen. Aber was ist koscher? Jens rief sofort den Alttestamentier der Universität Tübingen an und bat ihn um Rat. Der ließ sich nicht lange bitten und belehrte den Kollegen über die vielen Verbote, die zu beachten waren. Jens notierte pedantisch alle Vorschriften. Am Ende bemerkte der freundliche Alttestamentler: »Dies, was ich Ihnen, Herr Kollege, eben sagte, war natürlich der Sachverhalt vor etwa zweitausend Jahren. Aber Sie brauchen sich keine Gedanken zu machen. Denn bei den Juden hat sich in der Zwischenzeit, jedenfalls in dieser Hinsicht, nichts geändert.«
    Daß es in unserer Freundschaft innerhalb von dreißig Jahren auch Krisen gab, versteht sich von selbst. Doch haben wir nie vergessen, was wir aneinander hatten. Es gab Zeitabschnitte, in denen die Telefongespräche mit Walter Jens die Höhepunkte meines Lebens waren. Als im Herbst 1990 unsere Beziehung ernsthaft gestört und gefährdet war, schrieb er mir: »Schau auf die Widmung, lies noch einmal meine Rede auf dich – das allein zählt…« Die Widmung, die er meinte, lautet: »Für Marcel, in Freundschaft, die, Turbulenzen hin und her, unzerstörbar ist. Walter.«
    Aber Jens hat sich geirrt, gründlich geirrt. Unsere Freundschaft hat sich sehr wohl als zerstörbar erwiesen, und jene, die zu ihrer Zerstörung grausam beigetragen haben, mögen dies mit ihrem Gewissen abmachen. Gleichwohl ist das Wort von Jens nicht ganz falsch. Denn unzerstörbar ist die Erinnerung an die Jahre und Jahrzehnte dieser Freundschaft. In seinem Buch »Montauk« schrieb Max Frisch über seine Beziehung zu Ingeborg Bachmann: »Das Ende haben wir nicht gut bestanden, beide nicht.«

 
Literatur als Lebensgefühl
     
    Wir hatten keine Möbel und keine Gardinen, keine Bettwäsche, keine Handtücher und kein Geschirr, kein Rundfunkgerät und, das allerschlimmste, keine Bibliothek. Die einzigen Bücher, über die wir verfügten, waren jene vier Bände des großen deutsch-polnischen Lexikons, die sich als vollkommen überflüssig erwiesen. Die aus Polen mitgebrachte Kleidung reichte nicht aus, zumal wir ja unsere Wintersachen in Warschau zurücklassen mußten. Wir wohnten in Frankfurt in einem kleinen Zimmer zur Untermiete. Das war unser Wohn- und Schlaf- und Arbeitszimmer. Einen Schreibtisch gab es dort nicht. Später meinten manche, zu unserer Begrüßung in der Bundesrepublik seien rote Teppiche ausgerollt worden. Das trifft nicht zu, wir haben es auch nicht erwartet. Mich wundert es immer noch, daß wir unter den, um es vorsichtig auszudrücken, bedrängten Lebensbedingungen in den ersten Jahren im Westen überhaupt nicht gelitten haben. Wir waren nicht unzufrieden und auch keineswegs deprimiert.
    Unsere Laune war also gut, und sie wurde immer besser. Denn anders als ich befürchtet hatte, mußte ich mich nicht um Arbeit bemühen. Überdies gingen mir die Manuskripte, die bei mir bestellt wurden, leicht von der Hand – und ich erhielt stets weitere Aufträge. »Seines Fleißes« – heißt es in Lessings »Hamburgischer Dramaturgie« – »darf sich jedermann rühmen.« Nun denn: Innerhalb der ersten sechs Monate habe ich in der Bundesrepublik achtunddreißig Aufsätze verfaßt, davon fünfzehn für die »Welt« und die »Frankfurter Allgemeine« und die übrigen für verschiedene Rundfunksender.
    Die Zeitungen zahlten, wie schon gesagt, für Rezensionen und ähnliche Beiträge überaus karge Honorare, der Rundfunk erheblich bessere. Dennoch waren meine gedruckten Aufsätze auf deutlich höherem Niveau als die Funktexte: Es fiel mir schwer, Kritiken, die vom Publikum nur gehört werden sollten, so sorgfältig zu formulieren wie jene, die für die besten Zeitungen des Landes bestimmt waren. Mit anderen Worten: Ich arbeitete für den Rundfunk nur aus einem Grund – um das dringend benötigte Geld zu verdienen.
    Anfang 1959 schlug ich der »Welt« eine Artikelserie vor: Porträts der bekannteren Autoren aus der DDR. Da, wie ich

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