Mein Leben
Lady« der »Gruppe 47«.
Auf Schloß Elmau las sie ihr Prosastück »Alles«. Sie wirkte nervös und zerstreut. Bevor sie zu lesen begann, fiel ihr ein Teil des Manuskripts auf den Boden. Drei Herren stürzten nach vorn, um die Blätter rasch einzusammeln und sie vorsichtig auf den Tisch zu legen, an dem die Dichterin saß. Es wurde ganz still im Saal, manche fürchteten, daß es ihr die Sprache verschlagen habe. Schließlich war ihre Stimme doch zu hören.
Aber man mußte sich sehr anstrengen, um etwas zu verstehen. Ingeborg Bachmann las ganz leise, streckenweise hat sie ihren Text nur geflüstert, scheu und schüchtern. Sie war offensichtlich gehemmt, sehr hilflos und ein wenig verwirrt. Fiel es ihr schwer, lauter zu sprechen, oder wollte sie mit dem Flüstern die höchste Aufmerksamkeit der Anwesenden und die absolute Stille erzwingen? War sie etwa – was nicht wenige vermuteten, ganz besonders Frauen – eine Komödiantin? Das scheint mir ein zu hartes Wort. Sie war eine trotz ihrer Erfolge sehr unsichere und in mancher Hinsicht gefährdete, eine unglückliche Person, die in der Verstellung Schutz suchte. In der folgenden sehr respektvollen Diskussion haben unter anderen drei Kritiker (Walter Jens, Hans Mayer und ich) die Parabel »Alles« gedeutet, jeder auf andere Weise. Wenig später hielt Ingeborg Bachmann Vorlesungen und leitete Seminare im Rahmen der neugegründeten Gastdozentur für Poetik an der Universität Frankfurt am Main. In einer der Veranstaltungen wurde sie gefragt, welche der drei Deutungen der Geschichte »Alles« ihr am meisten zugesagt habe. Die gehauchte Antwort lautete: »Keine.« Mehr war von ihr zu diesem Thema nicht zu hören.
Die nächste Lesung von Ingeborg Bachmann bei der »Gruppe 47« war im Oktober 1961 im Jagdschloß Göhrde in der Lüneburger Heide. Obwohl sie sich wieder einmal in einer Krise befand, die ihr die Arbeit beinahe ganz unmöglich machte, war sie auf dem besten Wege, die Primadonna assoluta der deutschen Gegenwartsdichtung zu werden. So wollte Richter auf ihre Teilnahme nicht verzichten. Sie sollte am Sonntagvormittag zum Abschluß der Tagung lesen, nur sie und niemand sonst. Aber sie hatte bloß ein einziges und ziemlich kurzes Gedicht mitgebracht. Das hinderte Richter nicht, diesen Auftritt der Ingeborg Bachmann zu organisieren. Er wurde in noch höherem Maße als auf Schloß Elmau zu einer Weihestunde, einer besonders peinlichen freilich.
Sie las das Gedicht »Ihr Worte«; es umfaßt 37 Verse und beginnt mit der Zeile »Ihr Worte, auf, mir nach!« Es ist, glaube ich, ein mißglücktes, ein schlechtes Gedicht. Die Lesung dauerte nur wenige Minuten, dann herrschte ein sonderbares Schweigen. Zeugte es von Hochachtung? Oder doch eher von Verlegenheit? Richter wartete nicht lange und sagte: »Ich bin dafür, daß Ingeborg ihr Gedicht noch einmal liest.« Alle waren schweigend einverstanden, fragten sich aber, was danach geschehen solle. Nach der zweiten Lesung überraschte Richter die Anwesenden mit einer Äußerung, die einer Anordnung gleichkam und die ich noch nie auf einer Tagung der »Gruppe 47« gehört hatte: »Ich bin dafür«, erklärte er, »daß wir dieses Gedicht nicht kritisieren.« Warum eigentlich nicht? Etwa wegen seiner überwältigenden Qualität? Wenn das jemand glauben konnte, dann nur die Poetin selber.
Oder sollten wir uns der Kritik wegen der Fragwürdigkeit dieses Textes enthalten? Richter dachte nicht daran, seine ungewöhnliche Entscheidung zu begründen. Niemand protestierte, auch ich nicht. Die Stille schien mir unangenehm. Schließlich standen die Versammelten auf und verließen den Saal. Ich hätte sagen sollen, fiel mir jetzt ein, dieses Gedicht sei nun doch nicht so schlecht, daß man es von der Kritik ausschließen müsse. Aber es war natürlich gut, daß ich nichts gesagt habe. Denn der Ausschluß des unbeholfenen Gedichts von der Kritik war letztlich nicht ein Akt des Respekts (so wollte Richter seine Entscheidung verstanden wissen), sondern insgeheim einer des Mitleids.
Mein nächstes Treffen mit Ingeborg Bachmann war im April 1965 in Berlin. Sie verhielt sich mir gegenüber ziemlich kühl, vermutlich hatte ihr nicht besonders gefallen, was ich in meinem inzwischen erschienenen Buch »Deutsche Literatur in West und Ost« über sie und ihr Werk geschrieben hatte. Immerhin schenkte sie mir ihr Libretto zu der gerade uraufgeführten Oper »Der junge Lord« von Hans Werner Henze. Ich bat sie um eine Widmung. Sie fand das albern,
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