Mein Leben
doch wenn ich darauf bestehe, werde sie es so machen, wie sie es in der Regel in solchen Fällen tue: Sie werde irgendeine Seite des Textbuches aufschlagen und mit ihrem Kugelschreiber, ohne hinzuschauen, auf eine beliebige Zeile tippen – und diese dann als Widmung eintragen. Ich hatte nichts dagegen. Als sie aber die gefundene Zeile las, blickte sie mich verwundert und verwirrt an. Offenbar waren ihr die mir zugedachten Worte nicht ganz recht. Sie stammen aus dem zweiten Akt der Oper und lauten: »Bleibe guter Geist euch hold …« Ingeborg Bachmann zögerte nur einen Augenblick und schrieb dann: »Bleibe guter Geist ihm hold…«
Im Dezember 1968 traf ich sie in Rom. Ich hatte im Deutschen Kulturinstitut einen Vortrag über ein damals sehr beliebtes Thema gehalten: »Die Rolle des Schriftstellers im geteilten Deutschland«. Zu dem Empfang in der Botschaft der Bundesrepublik, der danach stattfand, kam zu meiner Überraschung auch Ingeborg Bachmann. Es dauerte nicht lange, und wir waren uns einig, die offizielle Party rasch zu verlassen. Wir verbrachten einige Stunden in verschiedenen Lokalen der Innenstadt. An unsere Gespräche kann ich mich sonderbarerweise nicht erinnern, wohl aber an ihr Aussehen. In den drei Jahren, die seit unserem letzten Treffen vergangen waren, hatte es sich stark verändert: Ingeborg Bachmann war deutlich gealtert, ihr Gesicht schien von einer Krankheit gezeichnet. Sie trug ein helles, etwas extravagantes, angeblich sehr teures Kleid, das mir gar zu kurz vorkam. Sie sprach nachdenklich und durchaus vernünftig. Doch war ihre Selbstkontrolle ein wenig beeinträchtigt. Ich habe Ingeborg Bachmann danach nie wieder gesehen.
Aber ich hatte noch ein Erlebnis mit ihr, wenn auch ganz anderer Art. Damals – es war im März 1971 – lehrte ich an der Stockholmer Universität, doch ohne meine Arbeit für die »Zeit« zu unterbrechen. Ich beschäftigte mich intensiv mit »Malina«, dem gerade veröffentlichten ersten Roman Ingeborg Bachmanns. Ihm war eine lange, eine zehnjährige Publikationspause vorangegangen. Solche, in der Regel lautlos-dramatischen Pausen werden von der literarischen Öffentlichkeit genau registriert – von manchen unruhig, von vielen sensationslüstern, von allen neugierig. Denn die meisten Schriftsteller sind in einer Krise oder haben gerade eine Krise überwunden oder befürchten eine Krise. Daher genießen sie die Krise eines Kollegen beinahe wollüstig.
Ich las den Roman als poetischen Krankheitsbericht, als das Psychogramm eines schweren Leidens. Ich las »Malina« als ein Buch über Ingeborg Bachmann. Die Ich-Erzählerin dieses Romans erkennt: »Ich bin… unfähig einen vernünftigen Gebrauch von der Welt zu machen.« Sie spricht in einem Brief von der »Ungeheuerlichkeit meines Unglücks«. Diese Bekenntnisse der Romanfigur bezog ich also auf die Autorin selber. Und ich sah damals, im März 1971, in meinem einsamen Stockholmer Hotelzimmer Ingeborg Bachmann auf dem Bildschirm. Sie war sichtlich bemüht, den Fragen des höflichen Interviewers nicht auszuweichen. Von der »Krankheit der Männer« sprach sie. Und sie sagte: »Denn die Männer sind unheilbar krank … Alle.« Ich las in dem Roman »Malina«: »Es kommt über mich, ich verliere den Verstand, ich bin ohne Trost, ich werde wahnsinnig.«
Ich war erschüttert. Ich spürte, ich ahnte es: ihr, Ingeborg Bachmann, steht Schreckliches bevor, vielleicht ein furchtbares Ende, vielleicht sehr bald. Ein alter Vers lag mir im Sinn und ließ sich nicht verdrängen. Er irritierte mich unaufhörlich, er wurde zur Zwangsvorstellung, der Vers: Und ich begehre nicht schuld daran zu sein.
Ich beschloß, die Kritik, die man von mir erwartete und von der ich etwa die Hälfte schon geschrieben hatte, auf keinen Fall abzuschließen. Ich mußte der Redaktion mitteilen, daß ich an diesem Roman gescheitert war, daß ich versagt hatte. Dieter E. Zimmer, der damals in der »Zeit« den Literaturteil leitete, hatte für meine Entscheidung Verständnis.
Als Ingeborg Bachmann am 16 . Oktober 1973 unter nie ganz geklärten Umständen starb, bat man mich einen Nachruf zu schreiben. Er endete mit dem Bekenntnis, daß ich einige Gedichte aus ihren Sammlungen »Die gestundete Zeit« und »Anrufung des Großen Bären« zu den schönsten zähle, die in diesem Jahrhundert in deutscher Sprache geschrieben wurden. Ich fragte mich, schuldbewußt, warum ich dies ihr, Ingeborg Bachmann, nie gesagt hatte.
Walter Jens oder Die
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