Mein Leben
dessen Werk kühn interpretiere, ohne sich um die Musik zu kümmern: Er hielt sie wohl für ein etwas störendes, zumindest für ein überflüssiges Element.
Als seine Haupteigenschaft bezeichnet er die Neugier. Daß ihm der Sinn für die Realität fehlt und er eine starke, eine weder verborgene noch je gestillte Neugier empfindet, ist nur auf den ersten Blick ein Widerspruch: In Wirklichkeit ergibt sich das eine aus dem anderen und bildet den Grundzug seines Wesens. Und dieser Grundzug war es, der ihn zu einem hervorragenden, zu einem einzigartigen Gesprächspartner machte. Was immer ich ihm erzählte, er stellte Fragen, die bewiesen, daß er aufmerksam zugehört hatte und daß ihn das Thema tatsächlich interessierte. Nur einmal hat er mich ärgerlich unterbrochen: Ich hatte ihn gefragt, ob es auch in Tübingen so furchtbar regne wie jetzt in Hamburg. Derartiges konnte er nicht ertragen: »Bist du schon ganz verrückt geworden? Sollen wir uns wie meine Schwiegermutter über das Wetter unterhalten?« Allerdings gab es Bereiche, über die er mich, wenn ich mich recht entsinne, nie befragte, die stets ausgespart blieben: meine Erlebnisse im Warschauer Getto, meine Erfahrungen in der Kommunistischen Partei Polens und im Auswärtigen Dienst.
Die Literatur und das literarische Leben – das war der Gegenstand unserer Gespräche. Begrüßungen und Fragen (nach der Laune und dem Befinden etwa) gab es nie, es ging gleich los, etwa so: »Der Aufsatz von Böll ist gar nicht so schlecht, aber zu wenig redigiert.« Oder: »Die Sache von Andersch ist zu oberflächlich, hätte er sich sparen können.« Oder: »Die Kritik der Bachmann-Novellen ist doch sehr verlogen.« Welche Artikel in diesen knappen Äußerungen gemeint waren, wurde nicht einmal erwähnt. Denn wir wußten voneinander, welche Blätter wir lasen.
Oft sprachen wir über unsere nächsten Bücher. Jens hat einmal eine Monographie über Lessing entworfen. Es war ein schlechthin faszinierendes Projekt. Leider hat er das Buch nie geschrieben. In einem anderen Gespräch sagte er mir: »Es ist Zeit für ein neues Buch über Schiller. Ich glaube, ich werde dieses Buch machen.« Sofort skizzierte er dessen Thesen und Umrisse. Man kann mir glauben: Es war ein grandioses Buch. Nur ist es bedauerlicherweise nie entstanden. Ein refrainartig wiederkehrendes Lieblingsprojekt von Jens galt einem Autor, den wir beide ganz besonders schätzten, jeder auf seine Weise: Fontane. Er redete über dieses Vorhaben leidenschaftlich und geistreich. Daß es nie verwirklicht wurde, versteht sich von selbst.
Groß war seine Teilnahme an meiner Arbeit. Psychologisch interessant scheint mir der Umstand, daß er mich bisweilen zu jenen Plänen ermunterte, die er selber aufgegeben hatte, etwa: »Vielleicht solltest du das längst fällige Buch über Fontane schreiben.« Wann immer ich einen Titel suchte oder für eine bestimmte These eine griffige Formulierung brauchte oder in irgendeiner Angelegenheit unentschieden war – er gab sich stets die größte Mühe, mich zu beraten. Seine Ratschläge waren fast immer gut, ja, fabelhaft. Als wir schon längst zerstritten waren, hat Jens einmal gesagt: »Wir verdanken uns gegenseitig sehr viel.« Abwägen läßt sich derartiges nicht, aber ich kann mich des Verdachts nicht erwehren, daß ich ihm noch mehr zu verdanken habe als er mir.
Immer war seine Wißbegier auf Menschen gerichtet, die aus dem Rahmen fielen, die es schwer mit sich selber hatten, sie galt den Leidenden und Hochbedürftigen. Alkoholiker, Tablettensüchtige, Drogenabhängige, Neurotiker, Depressive, Melancholiker interessierten und irritierten ihn, auch Homosexuelle, Lesbierinnen und Impotente. Er wollte über sie, über ihre Schwierigkeiten und Komplexe genau informiert sein. Was ich ihm hierüber sagen oder erzählen konnte, nahm er dankbar zur Kenntnis. Wer gefährdet war, konnte seines Mitleids sicher sein. Nur wollte er mit solchen Menschen, glaube ich, lieber nicht unmittelbar in Berührung kommen. In der Regel genügten ihm Auskünfte aus zweiter Hand. Gelegentlich zitierte ich in unseren Telefongesprächen Mephistos Empfehlung: »Grau, teurer Freund, ist alle Theorie / Und grün des Lebens goldner Baum.« Er stimmte zu, gewiß, doch war und ist er vor allem ein Mann der Theorie, wie grau sie auch sein mochte.
Oft schnitt er ein Thema an, das ihm keine Ruhe gab: Er wußte schon, daß es Männer gibt, die, obwohl verheiratet, bisweilen mit anderen Frauen schlafen. Daß er
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