Mein Leben
lange, und es entwickelte sich eine Freundschaft zwischen uns, von deren Unverwüstlichkeit wir schon nach wenigen Jahren überzeugt waren. Wann immer wir uns über Hans Werner Richter unterhielten, und Skeptisches und Kritisches durchaus nicht ausgespart blieb, pflegte Jens zu sagen, wir beide jedenfalls seien ihm zu größtem Dank verpflichtet, denn ohne ihn hätten wir uns nicht kennengelernt oder, vielleicht, erst mehrere Jahre später. Irgendwann sagte ich zu Walter Jens, wer von uns beiden den anderen überleben werde, der sollte ihm den Nachruf schreiben. Jens hat diesen Vorschlag sofort akzeptiert und die Vereinbarung noch zu einem Zeitpunkt, als sich unsere Wege längst getrennt hatten, öffentlich bekräftigt.
Es war eine ganz ungewöhnliche Freundschaft – nicht nur die weitaus längste und wichtigste in meinem Leben, sondern auch, ich bin dessen sicher, die seltsamste. Wir trafen uns auf Tagungen der »Gruppe 47« und später beim Klagenfurter Wettbewerb um den Ingeborg Bachmann-Preis; wir machten zusammen Fernsehgespräche, vor allem in Berlin; ab und zu kam ich nach Tübingen, um Vorlesungen zu halten, und gelegentlich kam Jens, meist aus beruflichen Gründen, nach Hamburg oder Frankfurt; wir fuhren zusammen mit unseren Ehefrauen zu den Festspielen in Salzburg und Bayreuth. Aber das ergab alles in allem nur einige Treffen im Jahr. Die eigentliche Substanz dieser Beziehung war von ganz anderer Art: Lange bevor der Telefon-Sex erfunden war, praktizierten wir die Telefon-Freundschaft.
Zunächst telefonierten wir einmal wöchentlich, später häufiger und schließlich so, wie es sich gerade ergab, mitunter täglich. Die Gespräche dauerten zwanzig oder dreißig Minuten, bisweilen eine ganze Stunde oder noch länger. Der Dialog, der sich über Jahrzehnte erstreckte, hatte triftige Ursachen: Beide, Jens und ich, brauchten das Gespräch, beide waren wir auf den Informations- und Meinungsaustausch angewiesen, auf die Diskussion – freilich aus unterschiedlichen Gründen, die sowohl mit unserer Mentalität zusammenhingen als auch mit den Situationen, in denen wir uns befanden.
Ich war in Hamburg, wo wir von 1959 bis 1973 gewohnt haben, zu einem monologischen Dasein verurteilt: Auf Lesen folgte Schreiben, auf Schreiben Lesen. Der gesellige Kontakt, den ich so gut wie überhaupt nicht hatte, die kollegialen Ratschläge, die ich oft hören wollte, die freundschaftlichen Warnungen und auch Ermutigungen, deren ich dringend bedurfte – das alles fand ich in den Telefongesprächen mit Walter Jens. Wie war es nun um ihn bestellt, um ihn, der doch in Tübingen, ganz anders als ich in Hamburg, immer inmitten einer großen Schar von Kollegen und Schülern wirkte? Nein, er war in Tübingen keineswegs isoliert. Dennoch ist die Vermutung so ganz abwegig nicht, daß er auch dort, ähnlich wie in der »Gruppe 47«, etwas einsam gewesen war.
Die vielleicht wichtigste Äußerung über Jens stammt von ihm selber. In einem 1998 gedruckten Interview bekannte er, er sei »ein Mann der gebrochenen Erfahrung«. Und: »Ich kann dem Leben in seiner Buntheit nicht gerecht werden. Mir fehlt ein Sinn für Realität im weitesten Sinn.« Damit hat Jens zugleich gesagt, was seinen Romanen und Erzählungen, seinen dramatischen Arbeiten, ob sie nun für die Bühne, für das Fernsehen oder für den Hörfunk geschrieben wurden, fehlt: das Leben in seiner Buntheit.
Er liebt das erhabene Spiel mit Themen und Thesen, mit Fragen und Formeln, mit Gedanken, mit der Tradition, genauer: mit dem Tradierten. Aber es ist nicht das Spiel eines Künstlers, sondern eines Intellektuellen. Jens ist, ähnlich wie ich, ein Kaffeehausliterat ohne Kaffeehaus. Unser Kaffeehaus war das Telefon. Nicht das Sinnliche ist sein Element, sondern das Diskursive. Daher sind seine epischen und dramatischen Versuche nicht mehr und nicht weniger als Belege von Thesen. Seine wichtigsten Arbeiten sind Reden, Essays und Traktate.
So ist es kein Zufall, vielmehr aufschlußreich und folgerichtig, daß in seinem umfangreichen Werk das Erotische nicht existiert: »Das darzustellen hat mich in der Tat nie so recht gereizt. Nein, über das Erotische wollte ich nicht schreiben.« Seine Gegner meinen, er sei nicht imstande, eine Bach-Fuge von der »Schönen blauen Donau« zu unterscheiden. Das ist maßlos übertrieben. Aber wenn wir auf Wagner zu sprechen kamen – auch über dieses Thema redete Jens sehr intelligent und kenntnisreich –, hatte ich immer den Eindruck, daß er
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