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Mein Leben

Mein Leben

Titel: Mein Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Reich-Ranicki
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vergessen sind. Da, so schien es mir, gehörte ich hin, da würde auch ich, so hoffte ich, früher oder später landen. Vorerst sah es nicht danach aus: Ich kannte niemanden in der »Zeit«, und niemand in dieser Redaktion war an mir interessiert.
    Im Sommer 1959 zogen wir nach Hamburg und bekamen nach nicht langer Wartezeit eine kleine Wohnung zugewiesen. Die zweieinhalb Zimmer mußten reichen: für drei Personen (unser Sohn war mittlerweile zu uns gestoßen) und für meinen Arbeitsraum. Ziemlich eng war es schon, aber wir waren zufrieden. Bei Lichte besehen ging es uns von Monat zu Monat besser, zumal wir uns dank der Funkhonorare die nötigsten Möbel anschaffen konnten. Im Herbst 1959 überraschte mich die »Welt« mit einem Auftrag, den ich als ehrenvoll empfand: Ich erhielt zur Besprechung den neuen Roman von Heinrich Böll, der schon damals als der populärste Schriftsteller der Nachkriegsliteratur galt.
    Wenige Wochen später erfolgte, was ich gewünscht und erhofft hatte: »Die Zeit« suchte die regelmäßige Zusammenarbeit mit mir. Man bat mich, das erfolgreichste Debüt des Jahres zu rezensieren, den inzwischen schon mehrfach enthusiastisch besprochenen Roman »Die Blechtrommel« des Günter Grass. Ich lieferte eine sehr einseitige Kritik, in der ich den Geschmacklosigkeiten und Schaumschlägereien des jungen Autors und den Schwächen, den Mängeln und Makeln seines Romans ungleich mehr Platz einräumte als den von mir mit Sicherheit unterschätzten Vorzügen seiner Prosa. Die Kritik erschien sofort und ungekürzt.
    Nach den Artikeln über die Bücher von Böll und Grass war ich als Kritiker akzeptiert – nicht unbedingt von den Autoren, wohl aber von den Redakteuren, den Arbeitgebern. Von nun an schrieb ich gleichzeitig für die »Welt« und die »Zeit« und neben Buchbesprechungen auch größere literaturkritische Artikel und viele Glossen. Schon 1960 – ich war erst zwei Jahre im Westen – hat mich »Die Zeit« in einer Umfrage zu den »führenden Buchkritikern« der deutschsprachigen Welt gezählt. Ab Oktober 1961 wurden meine Kritiken dort durch eine besondere Unterzeile hervorgehoben: »Marcel Reich-Ranicki bespricht…« Nachdem sieben Artikel mit dieser Unterzeile versehen waren, hat man sie wieder aufgegeben: Die anderen Kritiker fühlten sich verständlicherweise benachteiligt.
    Etwa gleichzeitig richtete die »Zeit« für meine Glossen und kleineren Kommentare eine besondere Rubrik ein, die »Hüben und drüben« genannt wurde und in jeder Nummer erschien. Diese Beiträge wiederum hatten ein so starkes Echo, daß das »Dritte Programm« des Norddeutschen Rundfunks sie allwöchentlich, nachdem sie schon in der »Zeit« gedruckt waren, jeweils am Samstagabend nachsenden wollte: In einem Briefwechsel zwischen dem Feuilletonchef der »Zeit«, Rudolf Walter Leonhardt, und den beiden Herausgebern des Dritten Programms des NDR und des Senders Freies Berlin, Rolf Liebermann und Ernst Schnabel, wurde im Dezember 1962 vereinbart, meine »Hüben und drüben«-Kolumne als »Gemeinschaftsunternehmen« der beiden Institutionen fortzuführen. Wenn ich recht informiert bin, hatte es eine solche Zusammenarbeit zwischen einer Zeitung und einem Rundfunksender noch nicht gegeben.
    Schon vorher, Ende 1961, hatte ich der »Welt« gekündigt. Anfang 1963 ging in Erfüllung, woran mir so gelegen war: Ich wurde von der »Zeit« regelrecht angestellt. Ich bekam also nicht nur ein festes Monatsgehalt, sondern auch die übliche Altersversorgung und die Krankenversicherung. An meiner Arbeit änderte sich dadurch nichts: Ich hatte wie bisher der »Zeit« Artikel zu liefern, ich hatte weiterhin keinerlei redaktionelle Pflichten. Angeblich war ich damals der einzige in der Bundesrepublik, der als Kritiker fest angestellt war – und eben nur als Kritiker. 1963 erschien auch mein erstes im Westen veröffentlichtes Buch: »Deutsche Literatur in West und Ost«.
    Das Echo hat ebenso meine Hoffnungen wie meine Befürchtungen stark übertroffen. Es gab viele und sehr ausführliche Äußerungen, freundliche und unfreundliche, begeisterte und vernichtende. Doch nicht diese Skala überraschte mich, wohl aber die Tatsache, daß der Anteil der negativen oder zumindest skeptischen Urteile ungleich größer war, als ich es erwartet hatte.
    Anfang 1964 begann ich eine Funkserie, das »Literarische Kaffeehaus«, die von mehreren Sendern gleichzeitig ausgestrahlt wurde, zum Teil auch vom Fernsehen. Gesendet wurde in der Regel live aus dem

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