Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mein Leben

Mein Leben

Titel: Mein Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Reich-Ranicki
Vom Netzwerk:
sagen ist. Nur schrieben die Wissenschaftler für die Wissenschaftler und die Literaten für die Literaten. Das Publikum indes ging leer aus. Auch ohne Heine und ohne Fontane und ohne die anderen hätte ich vornehmlich für die Leser geschrieben und nicht für die Zunft. Dazu hätte mich schon mein Temperament getrieben.
    Es komme vor allem darauf an – hat Fontane einmal gesagt –, doch wenigstens begriffen zu werden. Um die Verständlichkeit meiner Sätze bemüht, habe ich mir oft mit einem Fremdwörterbuch geholfen – auf der Suche nach deutschen Entsprechungen, die ich statt der sich aufdrängenden Fremdwörter verwenden könnte. Um das, was ich sagen wollte, erkennbar und faßbar zu machen, habe ich mir häufig erlaubt zu übertreiben und zu überspitzen. Ich bin überzeugt: Gute Kritiker haben immer um der Verdeutlichung willen vereinfacht, sie haben oft das, was sie mitzuteilen wünschten, auf des Messers Schneide gebracht und auf die Spitze getrieben, damit es einsichtig und klar werde. Was immer man mir vorwerfen mag, die Unlust, »ja« oder »nein« zu sagen, gehört wohl nicht dazu. Viele Leser waren mir dankbar, daß sie meinen Kritiken ohne Mühe entnehmen konnten, ob ich eine literarische Neuerscheinung befürworte oder ablehne.
    So haben mich die großen Kritiker der Vergangenheit angeregt und ermutigt, sie haben auf mich Einfluß ausgeübt, auf meine Anschauungen über die Aufgabe und die Rolle der Literaturkritik ebenso wie auf meine alltägliche Praxis. Hier und da habe ich mir von ihnen auch die Legitimation geholt – für manche meiner Ansichten und eben auch für die alltägliche Praxis in unserem Gewerbe. Um 1970 habe ich beschlossen, ein Buch mit Porträts bedeutender deutscher Literaturkritiker von Lessing bis zur Gegenwart zu verfassen. Ich wollte mir für diese Aufgabe viel Zeit lassen: Mit ungefähr fünfzehn Aufsätzen habe ich zunächst gerechnet, zehn Jahre würden wohl nötig sein. Schließlich sind dreiundzwanzig Essays entstanden, und gedauert hat das Ganze ein Vierteljahrhundert: Das Buch »Die Anwälte der Literatur« konnte erst 1994 abgeschlossen und veröffentlicht werden.
    Jemand meinte, es seien in diesem Band zwar dreiundzwanzig Porträts enthalten, doch verberge sich in ihnen das Bild noch eines Kritikers, der, bewußt und unbewußt, ein Selbstporträt zeichne und ein Selbstbekenntnis ablege – das Bild des Autors. Ich habe das gern gelesen. Wer über andere Menschen schreibt, kann es gar nicht verhindern, daß er zugleich auch über sich selbst schreibt. Das gilt unzweifelhaft und ganz besonders für den Kritiker, der, über andere Kritiker sich äußernd, so gut wie immer zu erkennen gibt, was er von seiner Zunft – und somit auch von sich selber – erwartet und verlangt.
    Aber es gibt noch ein ganz anderes Element, das vielleicht zu meinem Erfolg als Kritiker beigetragen hat. Auf die Gefahr hin, der Anmaßung bezichtigt zu werden, will ich hier doch sagen, wovon ich überzeugt bin: Die Literatur ist mein Lebensgefühl. Das lassen, glaube ich, alle meine Ansichten und Urteile über Schriftsteller und Bücher erkennen, vielleicht auch die abwegigen und verfehlten. Letztlich ist es ja die Liebe zur Literatur, diese mitunter sogar ungeheuerliche Leidenschaft, die es dem Kritiker ermöglicht, seinen Beruf auszuüben, seines Amtes zu walten. Und bisweilen mag es diese Liebe sein, die anderen die Person des Kritikers erträglich und in Ausnahmefällen sogar sympathisch macht. Man kann es nicht oft genug wiederholen: Ohne Liebe zur Literatur gibt es keine Kritik.

 
Canetti, Adorno, Bernhard und andere
     
    Meine Situation war gut. Manche Kollegen meinten gar, ich sei zu beneiden, da ich, bei der »Zeit« fest angestellt, dennoch die Privilegien eines freien Autors genießen dürfe. In der Tat: Ich brauchte nicht in die Redaktion zu kommen und an Konferenzen teilzunehmen, ich hatte nicht Manuskripte zu begutachten und zu redigieren, ich mußte nicht Korrektur lesen. Ich sollte schreiben, andere Pflichten hatte ich nicht, nichts anderes erwartete man von mir. Auch blieb es mir überlassen, wieviel und wie wenig ich schrieb – auf jeden Fall bekam ich mein Gehalt.
    Ja, das waren in der Tat Privilegien – und ich verdankte sie dem Feuilletonchef der »Zeit«, Rudolf Walter Leonhardt, einem Liebhaber der Literatur, der sich von seiner Schwärmerei nicht um den gesunden Menschenverstand bringen ließ. Er war ein Enthusiast auf leisen Sohlen. Ich wurde von Leonhardt

Weitere Kostenlose Bücher