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Mein Leben

Mein Leben

Titel: Mein Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Reich-Ranicki
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längst nicht mehr existierenden Weinhaus Wolf in Hannover, von dem bei Gottfried Benn mehrfach die Rede ist. Es waren längere Gespräche, an denen nur drei Personen teilnahmen: Hans Mayer und ich waren immer dabei, der dritte war ein Gast, meist ein bekannter Schriftsteller, bisweilen ein Literarhistoriker. Über die Literatur unterhielt man sich und über das literarische Leben, gelegentlich auch über ganz andere Themen, vorwiegend über Aktuelles.
    Zu den Gästen gehörten: Theodor W. Adorno, Rudolf Augstein, Ernst Bloch, Heinrich Böll, Friedrich Dürrenmatt, Hans Magnus Enzensberger, Max Frisch, Günter Grass, Hans Werner Henze, Walter Jens, Wolfgang Koeppen, Siegfried Lenz, Hilde Spiel und Martin Walser. Man wird zugeben: eine ansehnliche Liste. Jede Sendung endete mit den Worten aus Brechts »Gutem Menschen von Sezuan«: Wir »sehn betroffen den Vorhang zu und alle Fragen offen«. Als in den achtziger Jahren im Zweiten Deutschen Fernsehen das »Literarische Quartett« gegründet wurde, habe ich an das »Literarische Kaffeehaus« aus den sechziger Jahren angeknüpft und die Brecht-Zeilen als Abschluß beibehalten.
    Ein letztes Beispiel: Eine Hamburger Studienrätin bat mich, ihr einige kurze Erzählungen zu empfehlen, die sich für die schriftliche Abiturientenprüfung eigneten. Es sollten möglichst zeitgenössische Autoren sein. Ich erfüllte ihren Wunsch und dachte mir: Sie ist bestimmt nicht die einzige, die derartige Geschichten braucht. So machte ich eine Anthologie (»Erfundene Wahrheit«), die 1965 erschien und monatelang auf der Bestsellerliste stand. Daraus ging eine fünfbändige Sammlung deutscher Erzählungen des zwanzigsten Jahrhunderts hervor, die umfassendste, die es je gegeben hat.
    Wie also? Folgte damals ein Sieg auf den anderen? Habe ich gleich in den ersten Jahren meines Aufenthalts m Deutschland einen Triumph nach dem anderen feiern können? Das wäre stark übertrieben. Jedenfalls war in meinem Hamburger Alltag von einem Triumph wenig zu merken. Nach wie vor lebten wir in den zweieinhalb Zimmern, die ich dem sozialen Wohnungsbau zu verdanken hatte – an eine größere Wohnung war bei meinen Einkünften nicht zu denken. Nach wie vor mußte ich auch am siebten Tag der Woche arbeiten. Auch nach mehreren Jahren in Hamburg fühlten wir uns in dieser Stadt ziemlich einsam, genauer: isoliert.
    Von einem Hochgefühl konnte also nicht die Rede sein – zumal Tosias Gesundheit viel zu wünschen übrigließ, es gab ernste und langwierige Krisen. War ich undankbar? Natürlich wußte ich, daß mir in kurzer Zeit ein Erfolg gelungen war, mit dem ich niemals hatte rechnen können: Der Wunschtraum meiner Jugend – in Deutschland als Kritiker deutscher Literatur zu arbeiten – war verwirklicht. Wie konnte das in so kurzer Zeit geschehen? Man hat mir diese lästige Frage schon oft gestellt. Meist bin ich ihr ausgewichen, zumal ich nicht recht weiß, ob es überhaupt meine Sache, gar meine Pflicht ist, mir darüber öffentlich Gedanken zu machen. Schließlich ist es immer nicht nur riskant, es ist geradezu fatal, eigene Leistungen zu kommentieren, gar zu rühmen. Recht hatte Heine, als er in seinen »Geständnissen« meinte: »Ich wäre ein eitler Geck, wenn ich hier das Gute, das ich von mir zu sagen wüßte, drall hervorhübe.« Andererseits wäre es ein Zeichen von Feigheit, wollte ich mich dieser heiklen Frage ganz entziehen.
    Mein schneller und, wie manche, sei es wohlwollend, sei es hämisch, bemerkten, erstaunlicher Erfolg hat mit der Eigenart meiner Kritik zu tun. Bewußt und unbewußt habe ich an eine Tradition angeknüpft, die im »Dritten Reich« offiziell verpönt war und um die sich meine Kollegen nach dem Zweiten Weltkrieg wenig oder gar nicht kümmern wollten. Gewiß, ein Vorbild, dem ich nacheifern wollte, kannte ich nie. Aber ich habe sehr viel von den großen deutschen Kritikern der Vergangenheit gelernt, von Heine und Fontane, von Kerr und Polgar, von Jacobsohn und Tucholsky. Noch heute lerne ich von ihnen und erst recht von den wunderbaren Kritikern der deutschen Romantik. Ich statte meinen Dank ab, indem ich immer wieder auf sie verweise und sie immer wieder zitiere.
    Sie alle arbeiteten für Zeitungen, und das hat ihren Stil geprägt. Sie hatten den gleichen Adressaten im Auge: das Publikum. Selbstverständlich ist das nicht, zumal in Deutschland, wo gerade die Betrachtung der Literatur oft genug in den Händen von Wissenschaftlern und Literaten lag, wogegen natürlich nichts zu

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