Mein Leben
gefördert, weil ihm meine Literaturkritik gefiel, aber auch aus einem anderen Grund: Die Redaktion konnte sich bald davon überzeugen, daß meine Artikel zum Anstieg der Auflage beitrugen.
Und ich betätigte mich in der »Zeit« nicht nur als Literaturkritiker, ich durfte ab und zu auch Theaterrezensionen verfassen. Ich besprach vor allem Uraufführungen deutscher Dramatiker: Peter Weiss, Günter Grass, Martin Walser, Tankred Dorst. Auch wenn ich mich über eine Shakespeare-Inszenierung oder eine Tschechow-Premiere äußern wollte, war der Theater-Redakteur der »Zeit« immer großzügig: Die reizvolle Aufgabe, der er sich selber annehmen wollte, hat dieser Redakteur – es war Hellmuth Karasek – sofort an mich abgetreten. Gelegentlich schrieb ich auch über Opern, über Wagner zumal und Richard Strauss.
Doch meine Domäne war und blieb die Literaturkritik. Wenn ich auch über die Russen von Babel bis Solschenizyn und, weit häufiger noch, über die Amerikaner von Hemingway bis Philip Roth schrieb, im Mittelpunkt und im Vordergrund stand immer die Literatur in deutscher Sprache. Es war mit der »Zeit« abgemacht, daß ich die Bücher deutscher Schriftsteller frei auswählen konnte, daß sie erst dann anderen zur Besprechung vergeben wurden, wenn ich meine Wünsche mitgeteilt hatte. Ich kann mich nicht beschweren: Die Redaktion hat sich strikt an diese Abmachung gehalten.
Nur einmal, 1969, wurde mit der Rezension eines Buches, über das ich schreiben wollte, ein anderer Kritiker beauftragt, und zwar ohne daß man sich mit mir verständigt hätte. Das hat mich geärgert – und obwohl mir an dem eher unerheblichen Buch nicht besonders gelegen war (es ging um Reinhard Lettaus kleinen Prosaband »Feinde«), habe ich es gleich anderswo besprochen, im »Spiegel«. Es war als Warnung für die Redakteure von der »Zeit« gedacht. Ich gebe es zu: Leicht war die Zusammenarbeit mit mir nicht.
So konnte ich schreiben, über wen ich wollte. Ich schrieb über die zeitgenössischen Autoren der damals älteren, noch vor dem Ersten Weltkrieg geborenen Generation – also über die Seghers und die Kaschnitz, über Arnold Zweig, Elias Canetti, Hermann Kesten und Friedrich Torberg, über Wolfgang Koeppen, Max Frisch, Hans Erich Nossack und Peter Huchel. Ich analysierte die Autoren der damals mittleren Generation – wie Heinrich Böll, Friedrich Dürrenmatt und Arno Schmidt, wie Günter Eich, Peter Weiß und Alfred Andersen, wie Wolfdietrich Schnurre, Erich Fried und Wolfgang Hildesheimer. Aber ich erlaube mir in aller Bescheidenheit, doch nicht ohne leise Genugtuung darauf aufmerksam zu machen, daß ich einem berühmten, häufig bewunderten und gepriesenen deutschen Prosaschriftsteller keine einzige Kritik gewidmet habe. Ich meine Ernst Jünger. Sein Werk ist mir fremd. Ich fühlte mich berufen zu schweigen.
Auch in einem ganz anderen, völlig unvergleichbaren Fall habe ich geschwiegen: Ich habe mich nie über Nelly Sachs und ihre Lyrik geäußert. Aber ich habe sie im Februar 1965 in Stockholm besucht. Von Freunden aus dem Goethe-Institut wurde ich gewarnt: Das Gespräch werde schwierig und nicht ergiebig sein. Denn ihr psychischer Zustand sei sehr bedenklich, ihre Zurechnungsfähigkeit stark eingeschränkt. Ich ließ mich nicht abschrecken. Nelly Sachs wohnte in einem proletarischen Viertel Stockholms, immer noch in derselben engen Wohnung im dritten Stock eines Mietshauses, die sie 1940, nach ihrer Flucht aus Deutschland, zugeteilt bekommen hatte. Auch nachdem sie 1966 mit dem Nobelpreis ausgezeichnet worden war, blieb sie in dieser dürftigen Wohnung – bis zu ihrem Tod im Jahre 1970. Die kleine, zarte und zierliche Dame hätte meine Mutter sein können. Sie begrüßte mich herzlich und natürlich, so herzlich, als würden wir uns schon seit vielen Jahren kennen.
Auf die Frage nach ihrer Gesundheit antwortete sie mir gleich und auch sehr ausführlich. Es wäre ja gar nicht so schlimm, nur werde sie in Stockholm von einer illegalen deutschen, nationalsozialistischen Organisation verfolgt und terrorisiert. Inzwischen seien die Nazis unter der Kontrolle der schwedischen Polizei, so daß ihr, Nelly Sachs, keine unmittelbare Gefahr mehr drohe. Allerdings werde von der Nazi-Organisation ihr Schlaf mit Hilfe von Radiowellen unentwegt gestört, zeitweise sogar unmöglich gemacht – dagegen könne die Polizei nichts unternehmen. An dieser Schlaflosigkeit, ihrer schrecklichsten Qual, werde sie bis zu ihrem letzten Tag leiden
Weitere Kostenlose Bücher