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Mein Leben

Mein Leben

Titel: Mein Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Reich-Ranicki
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ging bisweilen in Verklärung über. Daran war Adorno nicht interessiert. Nicht das Sakrale war sein Element, sondern die Pfauenhaftigkeit, die er überhaupt nicht tarnte. Seine Teilnahme am »Literarischen Kaffeehaus« war eine Demonstration der Selbstzufriedenheit. Adornos Eitelkeit ähnelte jener eines Sängers oder eines Schauspielers: Nicht auf stumme Anbetung hatte er es also abgesehen, sondern auf begeisterten Beifall. So enorm seine Gefallsucht auch war, es verbarg sich in ihr etwas Entwaffnendes, etwas, das seine Eitelkeit begreiflicher und auch sympathischer machte als jene Canettis: Hilflosigkeit. In seinem Bedürfnis nach Zustimmung, in seiner ständigen Sehnsucht nach Lob war etwas Rührendes, etwas Kindliches.
    Kurz nach der Aufnahme unseres »Kaffeehauses« fragte mich Adorno, ob ich denn schon Gelegenheit gehabt hätte, sein jüngstes Buch zu lesen. Ich sagte, der Wahrheit gemäß, daß ich diese Gelegenheit leider noch nicht hatte. Adorno war sichtlich enttäuscht – und ich bedauere es noch heute, daß ich ihm nicht gesagt habe, sein Buch sei ein einzigartiges Meisterwerk. Wer weiß denn, ob es Adorno ohne jene kindliche Eitelkeit gelungen wäre, sein Werk zu schaffen?
    Vielleicht haben wir bisweilen zu wenig Verständnis für die kleinen Schwächen großer Männer. Man zitiert gern die beiden kurzen Verse, mit denen Brechts Gedicht »An die Nachgeborenen« endet: »Gedenkt unsrer / Mit Nachsicht.« Bisweilen will es mir scheinen, daß uns dieses Wort von allen zugerufen wird, die zur Literatur beigetragen haben.

 
Pulvermühle und Rechenmaschine
     
    Am 25. August 1964 wurde ich im Schwurgerichtssaal des Justizpalastes in München als Zeuge im Strafverfahren gegen den ehemaligen SS-Obergruppenführer Karl Wolff vernommen. Ich fragte zunächst die Staatsanwaltschaft, die mich vorgeladen hatte, ob ihr vielleicht ein Irrtum unterlaufen sei. Denn ich hatte Wolff, den Chef des Persönlichen Stabes des Reichsführers-SS Himmler, nie gesehen, ich hatte auch nichts über seine Tätigkeit gehört. Das nahm man zur Kenntnis und wollte mich dennoch vernehmen. Ich sollte über die Verhältnisse im Warschauer Getto aussagen. War es möglich, mehrfach durch die Straßen des »Jüdischen Wohnbezirks« zu fahren, ohne zu merken, was sich dort täglich abspielte?
    Berichte über meine Zeugenaussage waren in verschiedenen Zeitungen zu lesen. Das hatte zur Folge, daß ich von einer Mitarbeiterin des Norddeutschen Rundfunks um ein Interview über das Getto gebeten wurde. Wir trafen uns in Hamburg im Cafe »Funkeck« schräg gegenüber dem Rundfunkgebäude. Die Journalistin, vermutlich noch keine dreißig Jahre alt, war keineswegs besonders schön, aber nicht ohne Reiz. Vielleicht rührte dieser Reiz von ihrem offenkundigen Ernst, der mit ihrer Jugendlichkeit zu kontrastieren schien. Sie wollte ein Dreißig-Minuten-Gespräch aufnehmen. Ihre Fragen waren exakt und intelligent, sie kreisten um ein zentrales Problem: Wie konnte das geschehen? Kein einziges Mal haben wir die Aufnahme unterbrochen. Als das Gespräch beendet war, sah ich zu meiner Verblüffung, daß wir beinahe fünfzig Minuten geredet hatten. Wozu brauchen Sie soviel? Sie antwortete etwas verlegen: Sie habe zum Teil aus privatem Interesse gefragt. Ich möge ihr den Wissensdurst nicht verübeln. Ich wollte etwas über sie erfahren. Aber sie hatte es jetzt sehr eilig. Ich schaute sie an und sah, daß sie Tränen in den Augen hatte. Ich fragte noch rasch: »Entschuldigen Sie, habe ich Ihren Namen richtig verstanden – Meienberg?« – »Nein, Meinhof, Ulrike Meinhof.«
    Als ich 1968 hörte, daß die inzwischen bekannte Journalistin Ulrike Meinhof in die Illegalität gegangen war und zusammen mit Andreas Baader eine terroristische Gruppe gegründet hatte, als sie polizeilich gesucht und schließlich gefaßt worden war und als sie 1976 im Gefängnis Selbstmord verübt hatte – da mußte ich immer wieder an das Gespräch im Cafe »Funkeck« denken. Warum hat sich Ulrike Meinhof, deren Zukunft ich nicht ahnen konnte, so tief meinem Gedächtnis eingeprägt? Könnte dies damit zu tun haben, daß sie die erste Person in der Bundesrepublik war, die aufrichtig und ernsthaft wünschte, über meine Erlebnisse im Warschauer Getto informiert zu werden? Und wäre es denkbar, daß es zwischen ihrem brennenden Interesse für die deutsche Vergangenheit und dem Weg, der sie zum Terror und zum Verbrechen geführt hat, einen Zusammenhang gibt?
    Mitte der sechziger Jahre

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