Mein Leben
scheinende Art und Weise feiern wollte. Trotz der Absage von 1967 wagte ich es, mich noch einmal an Canetti zu wenden – in der Hoffnung, daß Hofmannsthal, anders als Böll, ein Thema sei, das seinen Ansprüchen genüge. Ich wandte mich an ihn mit einem, wenn ich mich recht entsinne, devoten Brief. Seine rasche Antwort hat mich allerdings, ich gebe es zu, überrascht. Er sei eben von seinem »Arbeitsversteck auf dem Land« nach London zurückgekommen und habe hier meinen Brief vorgefunden: »Ich habe mich nicht wenig über ihn gewundert. Ich dachte, Sie wissen, daß ich nicht für Zeitungen schreibe. (…) Ich kann nur schreiben, was ich von mir aus schreiben muß, und nicht Vorschläge zum Schreiben von außen entgegennehmen. Bei der Vorstellung, daß ich anläßlich irgendeines 100. Geburtstags etwas schreibe, muß ich lachen. (…) Und dann noch über Hofmannsthal, der mir nie etwas bedeutet hat, den ich im Gegenteil für maßlos überschätzt halte!«
Ich wollte Canetti daran erinnern, daß Heine und Fontane sehr wohl und sehr häufig für Zeitungen gearbeitet hatten, auch Döblin und Musil. Aber schließlich schien es mir richtiger, auf einen Briefwechsel über dieses Thema und über das Werk Hofmannsthals zu verzichten. Ich zog es vor, über zwei Bände seiner großflächig entworfenen Autobiographie zu schreiben, über »Die gerettete Zunge« aus dem Jahr 1977 und »Die Fackel im Ohr« von 1980. Daß Canettis Autobiographie dank ihrer literarischen Kultur und menschlichen Reife die meisten, ja, beinahe alle Bücher, die in jener Zeit in deutscher Sprache veröffentlicht wurden, weit hinter sich ließ, habe ich in diesen Kritiken natürlich gesagt.
Doch schien es mir bedenklich, daß Canetti dem Bedürfnis, die eigene Vergangenheit zu stilisieren und sich eine private Mythologie zu schaffen, offenbar nicht den geringsten Widerstand leistete. Auch konnte ich die Frage nicht unterdrücken, ob er die Ruhe, die mich befremdete, und die Gelassenheit, die mich irritierte, mit entschiedener Abwendung von allem erkauft hatte, was uns heute angeht und beängstigt. Hatte das mit seiner Eigenliebe und seiner Eitelkeit zu tun, mit jenem menschlichen »Sichwichtignehmen«, dem von Thomas Mann eine so fruchtbare Bedeutung beigemessen wurde? Verblüfft hat mich ein in seiner Aufrichtigkeit kaum zu überbietender Satz Canettis, der mir in seinen Aufzeichnungen aufgefallen ist: Die meisten lebenden Dichter, die er kennengelernt habe, hätten ihm mißfallen. Das ließe sich damit erklären – gesteht Canetti –, »daß man vielleicht gern der einzige wäre«.
Eigenliebe, Eitelkeit und das »Sichwichtignehmen«, dies alles in ungewöhnlichem Grad hat man auch einem Mann vorgeworfen, den man, vielen offensichtlichen Unterschieden zum Trotz, hier sehr wohl zum Vergleich heranziehen kann: Theodor W. Adorno. Beide waren fast gleichaltrig (Canetti wurde 1905 geboren, Adorno 1903), beide waren Juden und Emigranten, beide waren sie Persönlichkeiten von außerordentlichem Rang und Format – und beide hatten ihr Publikum vor allem in der Bundesrepublik. Adorno starb 1969 überraschend im Alter von 65 Jahren.
Warum ist er nicht älter geworden? Eine törichte Frage. Doch darf man sie in diesem Fall stellen. Ob er zu den bedeutendsten Denkern unserer Epoche gehört, kann ich nicht entscheiden. Aber daß er einer der erfolgreichsten deutschen Philosophen und Kulturkritiker war, ist unzweifelhaft. Das enorme Echo, das seinen Schriften zuteil wurde, beglückte ihn. Zugleich hat er viel gelitten, am meisten wohl in den letzten Jahren seines Lebens. Denn je berühmter er wurde, desto häufiger hat man ihn attackiert und gelegentlich verspottet, desto mehr mußte er unter dem Neid und der Mißgunst mancher Zeitgenossen leiden.
Die letzte Großaktion gegen ihn begann 1963. Ein junger Mensch, der wahrscheinlich nichts gelernt hatte und der allem Anschein nach unfähig war, Adornos Gedanken zu verstehen oder gar auf sie einzugehen, wollte ihn kompromittieren. Er suchte und fand schließlich, was er brauchte: eine von Adorno 1934 im »Amtlichen Mitteilungsblatt der Reichsjugendführung« veröffentlichte Rezension, in der er Chöre auf Gedichte von Baldur von Schirach zustimmend besprach und dabei, ebenfalls zustimmend, sogar eine Formulierung von Goebbels zitierte. Die Denunziation schlug ein. Jetzt heulten sie alle frohlockend auf: alle, die Adorno beneideten, die meinten, er habe ihnen ein Unrecht angetan, die es nicht ertragen konnten,
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