Mein Leben
daß er sie ignorierte, die sich schon lange rächen wollten. Es war die Stunde der Zukurzgekommenen und Gescheiterten, der Mißgünstigen. Jener Artikel von 1934 war natürlich nicht schön, was hierüber zu sagen ist, hat der Verfasser selber gesagt.
Aber schlimmer als die zwei oder drei höchst anstößigen Sätze war der Triumph der widerwärtigen Schadenfreude, der baren Infamie und übrigens auch, wie könnte es anders sein, des ganz gewöhnlichen Antisemitismus. Wieder einmal mußte man an das Wort von Hoffmann von Fallersieben denken, das man hierzulande nicht oft genug zitieren kann: »Der größte Lump im ganzen Land, / Das ist und bleibt der Denunziant.« In den folgenden Jahren ließen die Attacken gegen Adorno kaum nach. Man gab sich viel Mühe, ihm das Leben schwerzumachen. Doch wie verletzbar er auch war: Er ließ sich nicht beirren, er hat sein Werk fortgesetzt – zu unser aller Nutzen.
Ich habe Adorno mehrere Male gesehen, in Hamburg und Wien und vor allem in Frankfurt. Jedes Gespräch, auch ein flüchtiges, war bemerkenswert, aber am tiefsten hat sich mir die erste Begegnung eingeprägt: Es war am 6. Juli 1966 im Hessischen Rundfunk. Er nahm als Gast an einer Sendung des »Literarischen Kaffeehauses« teil. Die Aufzeichnung mußte – das war seine Bedingung, die wir akzeptierten – in Frankfurt stattfinden, und zwar um zehn Uhr morgens. Adorno kam pünktlich und war betont höflich, vielleicht zu höflich. Allerdings überraschte er uns, Hans Mayer und mich, mit der traurigen Mitteilung, daß er gerade heute dem Gespräch kaum gewachsen sei. Der vorangegangene Tag sei für ihn äußerst anstrengend gewesen, ja, er müsse bekennen, er habe, um die Seminare und Prüfungen überstehen zu können, mit einem Aufputschmittel nachhelfen müssen. Nun sei er leider gänzlich übermüdet, er bitte also die Herren, es doch gütigerweise allein zu machen, er werde sich auf einige Stichworte und gelegentliche Einwürfe beschränken. Das klang wie die Ankündigung eines berühmten Sängers, er werde in der Geheralprobe den Lohengrin leider nur markieren können.
Hans Mayer und ich waren fest entschlossen, dem großen, doch bedauerlicherweise leidenden Gelehrten menschenfreundlich beizustehen. So stellte ich dem Unpäßlichen eine einfache Frage, die ihm willkommen sein mußte: Wer nichts von ihm gelesen habe, der kenne doch sein meist falsch zitiertes Diktum, es sei barbarisch, nach Auschwitz Gedichte zu schreiben. Ich wollte wissen, wie er das gemeint habe. Adorno antwortete prompt und nicht knapp. Je länger er sprach, desto besser gefielen mir seine Erklärungen. Denn ich verstand alles – und das war ein angenehmes Gefühl, dessen ich mich, seine Schriften lesend, nicht immer rühmen konnte.
An den weiteren Verlauf dieses Gesprächs erinnere ich mich nicht mehr. Nur soviel ist sicher: Mayer und ich, nicht gerade als maulfaule, wortkarge Menschen bekannt, hatten diesmal nicht viel zu bestellen, denn unserem Gast war es offenbar entfallen, daß er übermüdet war: Adorno ließ sich weder bremsen noch unterbrechen.
Kaum war die Aufzeichnung beendet, da beeilte er sich, uns eine treuherzige Frage zu stellen: War ich gut? Ja, er war sogar sehr gut. Auch eitel wie ein Tenor? Gewiß. Aber ich habe im Laufe der Jahre und Jahrzehnte unzählige maßlos eitle Autoren getroffen, deren Leistungen nur dürftig waren. Warum sollte man da einem großen Mann, dem wir alle viel zu verdanken haben, die Eitelkeit verübeln?
Zwischen der Eitelkeit Adornos und jener Canettis bestand ein nicht geringer Unterschied. Canettis Eitelkeit hing mit seinem Ehrgeiz zusammen, als kategorischer Ankläger und einsamer Weltenrichter zu fungieren. Freilich entzog sich das symbolische Amt, das er anstrebte und vielleicht schon mit priesterlicher, ja, mit majestätischer Würde zu versehen bemüht war, einer genaueren Definition: Denn es war in einem diffusen Grenzbereich beheimatet – zwischen Literatur und Philosophie, Kunst und Religion, zwischen strenger Zeitkritik und höherer Lebenshilfe. Canetti wurde, nicht zu seiner Unzufriedenheit, als eine fast archaische und mythische Gestalt gerühmt, als der »Prophet von Rustschuk«.
Das alles war Adornos Sache nicht. Auch er wollte gefeiert und geehrt werden – doch vor allem als intellektuelle und wissenschaftliche Autorität. Auch ihm war an einer Gefolgschaft gelegen. Aber niemand sollte ihm blind folgen, vielmehr sein kritisches Denken kritisch bewundern. Die Verehrung Canettis
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