Mein Leben
deren Spitze der Stabschef der SA, Ernst Röhm, gestanden habe, blutig niedergeschlagen worden sei. Noch wußte man nicht, wie viele Menschen ermordet worden waren, noch kannte man die Bezeichnung »Röhmputsch« nicht.
Viele Juden hatten das Reich bereits 1933 verlassen. Diejenigen, die besonders gefährdet waren – neben Sozialdemokraten und Kommunisten vor allem zahlreiche Schriftsteller und Journalisten, die sich in der Weimarer Republik gegen die Nationalsozialisten engagiert hatten –, flüchteten zum Teil schon in den ersten Tagen oder Wochen nach dem Reichstagsbrand. Andere konnten ihre Ausreise vorbereiten und ihr Hab und Gut wenigstens teilweise mitnehmen.
Sogleich zeichneten sich unter den Juden zwei gegensätzliche Standpunkte ab. Der erste: Nach dem, was geschehen ist, haben wir in diesem Land nichts mehr zu suchen, wir sollten uns keine Illusionen machen, sondern so schnell wie möglich emigrieren. Der zweite: Man sollte nicht den Kopf verlieren, vielmehr abwarten und durchhalten, denn nichts wird so heiß gegessen wie gekocht. Nicht wenige versuchten sich einzureden, die antisemitische Hetze sei im Grunde gegen die Ostjuden gerichtet, nicht aber gegen die seit Jahrhunderten in Deutschland lebenden Juden. Jene zumal, die im Ersten Weltkrieg Soldaten gewesen waren und auch noch Orden erhalten hatten, glaubten, ihnen könne nichts passieren. Oft waren es gerade die nichtjüdischen Freunde und Bekannten, die die Juden, in bester Absicht, zu beruhigen suchten: Ein unmenschliches Regime wie das nationalsozialistische sei doch in Deutschland auf die Dauer undenkbar. Nach zwei oder spätestens drei Jahren werde der Spuk vorbei sein. Da habe es doch keinen Sinn, die Wohnung zu liquidieren und die Zelte abzubrechen.
Bei dem feierlichen Abendessen in unserer Wohnung waren beide Ansichten zu hören. Auch wenn die Brutalität und die offensichtliche Rechtlosigkeit der debattierten Vorgänge alle entsetzten, wurden die neuesten Nachrichten keineswegs nur pessimistisch kommentiert – also nicht nur als Zeichen der Grausamkeit des Regimes, sondern auch seiner Schwäche: Wer es für richtig und möglich hielt, ungeachtet aller Diskriminierungen doch in Deutschland zu bleiben, wer also hoffte, es ließe sich das »Dritte Reich« an Ort und Stelle überleben, der sah in der barbarischen Auseinandersetzung Hitlers mit der Opposition in den eigenen Reihen eher die Bestätigung seines Optimismus.
Von heute her gesehen ist es zumindest verwunderlich, daß die Zahl der Juden, die Deutschland verließen, mit den Jahren trotz der systematischen Verfolgung, trotz einer so ungeheuerlichen Maßnahme, wie es die Nürnberger Gesetze im September 1935 waren, keineswegs zunahm: Während 1933 etwa 37000 emigrierten, waren es in den Jahren 1934, 1935, 1936 und 1937 jeweils nur 20000 bis 25000. Was die überwiegende Mehrheit der Juden jahrelang davon abhielt, auszuwandern, läßt sich kurz sagen: Es war nichts anderes als der Glaube an Deutschland. Erst durch die »Kristallnacht«, die »Reichspogromnacht« im November 1938, geriet dieser Glaube ins Wanken – und auch dann keineswegs bei allen noch in Deutschland lebenden Juden.
Meine Eltern hatten weder Geld noch Kontakte, es mangelte ihnen ebenso an Initiative wie an Energie und an Tüchtigkeit. Sie haben an Auswanderung nicht einmal gedacht. Mein Bruder, neun Jahre älter als ich, ein ruhiger und zurückhaltender Mensch, hatte noch in Polen das Abitur gemacht und dann an der Berliner Universität Zahnmedizin studiert. Weil er die polnische Staatsangehörigkeit hatte, konnte er das Studium trotz des »Dritten Reichs« fortsetzen und abschließen. Er wurde 1935 promoviert – mit einer nur neunzehn Druckseiten umfassenden und mit »summa cum laude« ausgezeichneten Dissertation.
Und ich? Private Kontakte oder gar Freundschaften zwischen jüdischen und nichtjüdischen Schülern, die bis dahin gang und gäbe waren, hörten 1934 und 1935 allmählich auf. Von Schulfeiern, Ausflügen und Sportwettkämpfen waren wir ausgeschlossen. Diese Absonderung versuchte jeder der bald nur noch wenigen jüdischen Schüler auf seine Weise auszugleichen oder zu überwinden. Damit hatte es wohl zu tun, daß ich, der ich mich ohnehin einsam fühlte, Anschluß suchte und ihn bei einer zionistischen Jugendorganisation zu finden glaubte, beim Jüdischen Pfadfinderbund Deutschlands. Das war ein Mißverständnis, wenn auch kein bedauerliches.
Die regelmäßigen Ausflüge, die man »Fahrten« nannte,
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