Mein Leben
schließlich eine deutsche, eine preußische Schule, und in einer solchen sei Gerechtigkeit oberstes und selbstverständliches Prinzip. Daß ein Schüler seiner Herkunft wegen benachteiligt oder gar schikaniert werde – nein, das sei am Fichte-Gymnasium undenkbar. Die Schule habe ihre Tradition.
Über dieses Gespräch berichtete meine Mutter an unserem Mittagstisch mit unverkennbarer Genugtuung: Es hatte sich wieder einmal erwiesen, woran sie trotz aller Vorkommnisse zu glauben entschlossen war – daß es in Deutschland immer noch wackere Männer gab, die für Recht und Ordnung sorgten.
Als ich nach den Osterferien, inzwischen Untersekundaner, zum ersten Mal das Gebäude des Fichte-Gymnasiums in der Emser Straße betrat, war jener Direktor, der meiner Mutter so gefallen hatte, nicht mehr zu sehen. Warum nicht? Derartiges teilte man Schülern nicht mit. Aber man munkelte von Zwangspensionierung. Sein Nachfolger hieß Heiniger. An nationalen Feiertagen erschien er in einer eleganten braunen Uniform mit allerlei goldenem Behang. Er war nämlich ein »Goldfasan« – so nannte man die höheren Funktionäre der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei.
Ein besonderer Umstand hatte meine Umschulung nötig gemacht: Meine bisherige Schule, das Werner von Siemens-Realgymnasium, wurde 1935 aufgelöst. Das war eine ungewöhnliche Maßnahme: Noch unlängst, in den Jahren der nun so geschmähten Weimarer Republik, pflegte man Schulen zu gründen und nicht zu liquidieren. Die Auflösung hatte, wie man sich denken kann, einen zeitbedingten Grund: In Schöneberg, zumal in den Vierteln um den Bayerischen und den Viktoria-Luise-Platz, wohnten verhältnismäßig viele Juden. Manche von ihnen waren schon emigriert, andere konnten es sich nicht mehr leisten, ihre Kinder weiterhin auf die höhere Schule zu schicken, nicht zuletzt deshalb, weil den Juden die Schulgeld-Befreiung oder die Schulgeld-Ermäßigung entzogen wurde. So war schon bald nach der nationalsozialistischen Machtübernahme die Zahl der Schüler des Werner von Siemens-Realgymnasiums kräftig zurückgegangen. Überdies soll es bei den neuen Behörden einen besonders schlechten Ruf gehabt haben: Es galt als liberal, wenn nicht gar als »links«.
Ich hatte, wie sich in den nächsten Jahren herausstellte, viel Glück. Denn auch am Fichte-Gymnasium verhielten sich die Lehrer, ob sie Nazis waren oder nicht, den Juden gegenüber alles in allem anständig und korrekt. Da jede Unterrichtsstunde mit den Worten »Heil Hitler« zu beginnen hatte, wußten wir sofort, kaum daß ein neuer Lehrer die Klasse betreten hatte, wes Geistes Kind er war.
Der Gruß verriet es. Denn die einen grüßten stramm und zackig, die anderen eher leise und nachlässig. Wenn man aber beinahe alle Lehrer, mit denen ich zu tun hatte, in zwei große Gruppen einteilen kann, so meine ich damit nicht etwa die Nazis und die Nicht-Nazis. Nein, die Trennungslinie ist auf einer anderen Ebene zu suchen. Die einen waren ordentliche, pflichtbewußte Beamte – nicht mehr und nicht weniger. Ob sie Latein unterrichteten oder Mathematik, Deutsch oder Geschichte, es war ohne Bedeutung. Sie kamen in der Regel gut präpariert in die Stunde und erledigten das vorgeschriebene Pensum. Wenn sie uns Schüler nicht ärgerten oder überforderten, benahmen auch wir uns korrekt. Auf beiden Seiten dominierte eher Gleichgültigkeit.
Die anderen Lehrer waren ebenfalls nicht unbedingt passionierte Pädagogen. Trotzdem fühlte man bei ihnen eine starke Leidenschaft. In ihrer Jugend hatten sie wohl von einem ganz anderen Beruf geträumt: Sie wollten Wissenschaftler oder Schriftsteller werden, Musiker oder Maler. Es war nichts daraus geworden, aus welchen Gründen auch immer. So waren sie schließlich im Schuldienst gelandet oder steckengeblieben. Aber sie hörten nicht auf, die Musik oder die Literatur zu lieben, sie sehnten sich nach der Kunst oder der Wissenschaft, sie bewunderten den französischen Geist oder die englische Mentalität.
Daraus eben, aus dieser Liebe, aus dieser Sehnsucht und Bewunderung, schöpften sie, die sich täglich mit Kindern und Halbwüchsigen mühen mußten, die Kraft, ihre Bitterkeit zu verdrängen und ihre Resignation zu überwinden.
Gewiß, sie waren nicht immer sorgfältig vorbereitet, und sie hatten auch keine Bedenken, gelegentlich vom offiziell vorgeschriebenen Lehrstoff abzuweichen. Meist waren wir ihnen dafür dankbar. Denn was sie uns gleichsam am Rande des Unterrichts erzählten, war
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