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Mein Leben

Mein Leben

Titel: Mein Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Reich-Ranicki
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man wie« – für mich haben diese Worte ihren Charme nie eingebüßt. Nicht erloschen ist der Zauber der Rhythmen: Es war »ein Sich-Begegnen und ein Sich-Erwählen, ein Abschiednehmen und ein Wiederfinden«. Und immer noch höre ich die letzte Zeile: »Dort hat er eine alte Frau weinen gesehn.«
    Ich weiß schon: Dieses Poem gehört bestimmt nicht zu den bedeutenden Arbeiten Rilkes, es ist so erfolgreich wie fragwürdig, so berühmt wie berüchtigt. An Süßlichem und Sentimentalem, an Preziösem und Prätentiösem fehlt es hier nicht. Gar kein Zweifel: Was Rilke in seinen frühen Jahren geschrieben hat, läßt sich leicht verspotten; wollte ich eine vernichtende Kritik des »Cornet« verfassen – es fiele mir mit Sicherheit nicht schwer.
    Dennoch habe ich immer noch eine Vorliebe für diese poetische Prosa, ich gebe es zu, ohne mich zu schämen. Im »Don Carlos« bittet der Marquis Posa die Königin, seinem Freund, dem Infanten, zu sagen,
     
    daß er für die Träume seiner Jugend
    Soll Achtung tragen, wenn er Mann sein wird,
    (…) daß er nicht
    Soll irre werden, wenn des Staubes Weisheit
    Begeisterung, die Himmelstochter, lästert.
     
    Zu den Träumen der Jugend gehören auch literarische Werke, die uns einst überwältigen konnten, weil sie uns im richtigen Augenblick erreichten – und die daher unvergeßlich geblieben sind. Wenn man die Pubertät durchmacht oder sie gerade hinter sich hat, ist man für die Emphase, für den hochgestimmten, oft freilich exaltierten Ton des »Cornet« besonders empfänglich. So gehört diese Dichtung zu jenen literarischen Arbeiten, über die man im Laufe des Lebens allerlei Mißbilligendes gelesen und bisweilen auch selber geschrieben hat und denen man dennoch die Treue hält – weil man Achtung hat vor den Träumen seiner Jugend und wohl auch deshalb, weil man mit Wehmut an die Zeit denkt, da uns die Begeisterung, die Himmelstochter, beseelte und beglückte.
    Übrigens habe ich den jungen Mann, der damals Rilkes rhythmische Prosa im Militärmantel vortrug, nie wieder gesehen. Denn kurz nach jenem Abend, so wurde mir erzählt, verließ er Deutschland und emigrierte nach Palästina. Erst in den sechziger Jahren, als ich schon in Hamburg lebte, erfuhr ich, daß er zur israelischen Armee gegangen und Pilot geworden sei, einer der besten Piloten in der Luftwaffe des jungen Staates. Er hat das Flugzeug gesteuert, in dem Adolf Eichmann 1960 nach Israel gebracht wurde. Rainer Maria Rilke also und Adolf Eichmann.
    Nach dem Cornet-Abend kam ich auf eine Idee, die als etwas wunderlich empfunden wurde. Ich schlug vor, innerhalb dieses Pfadfinderbundes einen literarischen Zirkel zu gründen. Er sollte sich mit deutscher Dichtung befassen, zumal mit jener, die mich damals am meisten interessierte – mit der klassischen. Nicht viele der Halbwüchsigen zeigten sich an der Literatur sonderlich interessiert. Wir waren nur fünf, aber gerade genug, um Goethes »Iphigenie auf Tauris« mit verteilten Rollen zu lesen. Meine Wahl fiel auf dieses Stück, weil es mich kurz davor im Rundfunk beeindruckt hatte. Seitdem bin ich überzeugt, daß die »Iphigenie« nicht ein Schauspiel, sondern ein Hörspiel ist, also für den Rundfunk geschrieben wurde. Ernster ausgedrückt: Dieses Drama bedarf nicht der visuellen Darbietung.
    Doch konnte auch die Existenz des literarischen Zirkels nichts an meinem Entschluß ändern: Ich wollte den Jüdischen Pfadfinderbund rasch wieder verlassen. Allerlei habe ich in dieser Organisation gelernt, aber letztlich war ich dort fehl am Platz.

 
Rassenkunde – nicht erfolgreich
     
    »Mein Sohn ist Jude und Pole. Wie wird er in Ihrer Schule behandelt werden?« – fragte meine Mutter den Direktor des Fichte-Gymnasiums in Berlin-Wilmersdorf. Es war im Winter 1935. Übrigens hatte sie ein wenig übertrieben; denn ich hielt mich keineswegs für einen Polen, eher schon für einen Berliner. Allerdings war ich nach wie vor polnischer Staatsangehöriger. Meine Eltern hatten zwar die deutsche Staatsangehörigkeit beantragt, man hatte ihnen auch, da meine Mutter bis zu ihrer Eheschließung Reichsdeutsche war, eine positive und rasche Erledigung versprochen. Das war 1932, doch daraus konnte nach 1933 natürlich nichts mehr werden.
    Indes hatte meine Mutter mit ihrer ein wenig provozierenden Frage genau das erreicht, was sie erreichen wollte und auch erwartete: Der Herr Direktor versicherte überaus höflich, ihre Befürchtungen seien ihm schlechthin unbegreiflich. Dies sei

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