Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mein Leben

Mein Leben

Titel: Mein Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Reich-Ranicki
Vom Netzwerk:
zusätzliche Büroangestellte brauchte, versuchte ich meinen arbeitslosen Vater für diese Aushilfstätigkeit zu protegieren. Es gab Schlimmeres im Getto, gewiß, aber ich habe doch darunter gelitten und mich vor den Kollegen geschämt, daß ich mich, damals zwanzig Jahre alt, für meinen Vater, sechzig Jahre alt, um eine kümmerliche Beschäftigung bemühen mußte – übrigens ohne Erfolg. Den beinahe traditionellen Konflikt zwischen Vater und Sohn habe ich also nie kennengelernt. Wie hätte auch ein solcher Konflikt entstehen können, da ich meinen Vater niemals gehaßt und leider auch niemals geachtet, sondern immer bloß bemitleidet habe.
    Gemäß einem noch aus dem Altertum stammenden Brauch wird ein jüdischer Knabe, sobald er dreizehn Jahre alt ist, feierlich in die Gemeinschaft der Gläubigen aufgenommen. Auch ich sollte diese Feier, die Bar-Mizwa heißt und ungefähr der protestantischen Konfirmation entspricht, über mich ergehen lassen. Warum ich mich nicht widersetzt habe, obwohl ich schon damals mit der mosaischen Religion nichts zu tun haben wollte, weiß ich nicht mehr: vielleicht deshalb, weil dies alle jüdischen Mitschüler ohne Widerspruch mitmachten, vielleicht aber, weil ich mir die Gelegenheit nicht entgehen lassen wollte, einmal im Mittelpunkt zu stehen und Geschenke zu erhalten. Ich weiß auch nicht, warum das Ganze mit einjähriger Verspätung erfolgte. Die Feier fand in der (längst nicht mehr existierenden) Synagoge am Lützowplatz statt.
    Einer jüdischen Maxime zufolge kann ein Jude nur mit oder gegen, doch nicht ohne Gott leben. Um es ganz klar zu sagen: Ich habe nie mit oder gegen Gott gelebt. Ich kann mich an keinen einzigen Augenblick in meinem Leben erinnern, an dem ich an Gott geglaubt hätte. Die Rebellion des Goetheschen Prometheus – »Ich dich ehren? Wofür?« – ist mir vollkommen fremd. In meiner Schulzeit habe ich mich gelegentlich und vergeblich bemüht, den Sinn des Wortes »Gott« zu verstehen, bis ich eines Tages einen Aphorismus Lichtenbergs fand, der mich geradezu erleuchtete – die knappe Bemerkung, Gott habe den Menschen nach seinem Ebenbild geschaffen, bedeute in Wirklichkeit, der Mensch habe Gott nach seinem Ebenbild geschaffen.
    Als ich viele Jahre später einem Freund, einem gläubigen Christen, sagte, für mich sei Gott überhaupt keine Realität, sondern eher eine nicht sonderlich gelungene literarische Figur, vielleicht vergleichbar mit Odysseus oder dem König Lear, antwortete er durchaus schlagfertig, es könne überhaupt keine stärkere Realität geben als Odysseus oder den König Lear. Die diplomatische Antwort gefiel mir sehr, ohne mich im geringsten zu überzeugen. Dank Lichtenbergs effektvoll formulierter Einsicht fiel es mir noch leichter, ohne Gott zu leben.
    Was ich der jüdischen Religion vor allem vorzuwerfen habe, läßt sich mit Versen aus dem »Faust« andeuten:
     
    Es erben sich Gesetz und Rechte
    Wie eine ewge Krankheit fort,
    Sie schleppen vom Geschlecht sich zu Geschlechte
    Und rücken sacht von Ort zu Ort.
    Vernunft wird Unsinn, Wohltat Plage.
     
    Das ist es, was ich an der mosaischen Religion nicht ertragen kann: ihre Weigerung und Unfähigkeit, unzählige seit Menschengedenken existierende, aber längst sinnlos gewordene Gebote und Vorschriften abzuschaffen oder zumindest zu reformieren. In den zehn Geboten heißt es: »Sechs Tage sollst du arbeiten und alle deine Werke tun.
    Aber am siebenten Tage ist der Sabbat des HERRN, deines Gottes. Da sollst du keine Arbeit tun …« Eine Folge dieses Gebots habe ich schon als Kind erfahren. Da gab es in unserer Klasse zwei Schüler aus frommen jüdischen Familien. Zwar nahmen sie auch am Sonnabend am Unterricht teil, denn im Sinne der Vorschriften für die Einhaltung und die Heiligung des Sabbats ist es den Juden erlaubt, ja es wird ihnen sogar empfohlen, sich am siebten Tag der Woche der Wissenschaft zu widmen. Vom Schreiben jedoch, das als Arbeit gilt, waren diese beiden Schüler befreit.
    Wie also, fragte ich mich, soll man sich mit der Wissenschaft befassen, ohne zu schreiben? Niemand konnte mir das erklären. Und da es den gesetzestreuen Juden verboten ist, am Sabbat Gegenstände, welcher Art auch immer, zu tragen, konnten diese beiden Schüler am Sonnabend weder ihre Hefte noch ihre Schulbücher mitbringen, ja, sie durften nicht einmal eine Geldmünze oder einen Schlüsselbund in der Tasche haben. Wer nicht in der unmittelbaren Nähe der Schule wohnte, kam mit der Straßenbahn oder mit

Weitere Kostenlose Bücher