Mein Leben
einem Fahrrad. Das durften die frommen Schüler ebenfalls nicht, denn es ist den Juden untersagt, am Sabbat zu fahren, auf welche Weise auch immer. Diese Vorschriften empörten mich, am meisten jene, die den Juden untersagten, am Sabbat zu schreiben. Schon sehr früh, ich muß es unmißverständlich sagen, habe ich am Verstand jener gezweifelt, die derartige Gebote streng erfüllten.
Auch ein anderes Gebot der mosaischen Religion kam mir schon früh höchst fragwürdig vor. Am Sonnabend pflegte mich mein Großvater, der selbstverständlich alle Vorschriften beachtete, in sein Zimmer zu rufen. Er sagte mir: »Hier ist es so dunkel« – und nichts mehr. Meine Eltern erklärten mir, daß der fromme Jude am Sabbat kein Feuer anzünden dürfe, was auch für das Einschalten des elektrischen Lichts gelte. Der Großvater könne mich aber nicht bitten, das Licht einzuschalten, weil dies einer Anstiftung zur Sünde gleichkäme. Deshalb eben beschränke er sich auf die Feststellung, im Zimmer sei es jetzt dunkel. Als ich mir die Bemerkung erlaubte, dies sei doch bare Heuchelei, da er mich in Wirklichkeit doch zu der angeblichen Sünde auffordere, bekam ich zu hören, daß ich mich damit abfinden solle. Nein, ich habe mich nie damit abgefunden, daß Gebote, die in grauer Vorzeit ihren Sinn gehabt haben mochten, weiterhin beachtet wurden. Ich hielt mich an Goethes Wort: »Vernunft wird Unsinn, Wohltat Plage.«
Aber ich weiß zugleich und vergesse es nicht: Die Juden haben keine Schlösser und Paläste erbaut, keine Türme und Dome errichtet, keine Reiche gegründet. Sie haben nur Worte aneinander gereiht. Es gibt keine Religion auf Erden, die das Wort und die Schrift höher schätzen würde als die mosaische. Über sechzig Jahre ist es nun her, daß ich in der Synagoge am Lützowplatz erwartungsvoll und etwas ängstlich neben dem Schrein stand, in dem die Thorarolle aufbewahrt wird. Doch kann ich den Augenblick nicht vergessen, da der Vorbeter sie vorsichtig hervorholte und dann die Pergamentrolle mit den fünf Büchern Mose vor der Gemeinde hochhielt. Die Gläubigen erstarrten in Ehrfurcht und verneigten sich vor der Schrift. Ich war ergriffen, ich hielt den Atem an. Und wann immer ich mich in späteren Jahren an diesen Augenblick erinnerte, dachte ich mir: Es ist schon gut und richtig, daß dies das Kind tief beeindruckt und sich für immer im Gedächtnis eingeprägt hat. Derartiges kann einem Literaten nicht gleichgültig sein, ein Leben lang.
Gleichwohl habe ich damals, Ende Juni 1934, zum letzten Mal an einem Gottesdienst teilgenommen. Nein, das stimmt nicht ganz: Ich habe einen jüdischen Gottesdienst auch noch Ende Juni 1990 erlebt – in der Alten Synagoge in Prag. Dort indes war ich als Tourist. Übrigens verdanke ich, was ich in meiner Jugend über das Judentum erfahren habe, paradoxerweise vor allem dem preußischen Gymnasium in den Jahren des Dritten Reichs.
Wie lange es jüdischen Religionsunterricht an Berliner Schulen gab, weiß ich nicht mehr, aber bestimmt noch 1936, vielleicht auch 1937. Zweimal wöchentlich kam ein Rabbiner, stets einer der bekannten Rabbiner aus den westlichen Teilen von Berlin. Ich glaube, er durfte das Lehrerzimmer nicht betreten, aber wir, also die paar jüdischen Schüler, die es noch gab, hatten einen Klassenraum zur Verfügung, und es konnte ein ganz normaler jüdischer Religionsunterricht stattfinden.
An einen dieser Religionslehrer kann ich mich noch genau erinnern: Es war Max Nußbaum, sehr elegant und ungewöhnlich jung – 26 Jahre alt, doch schon seit drei Jahren promoviert –, ein beliebter Kanzelredner und ein geistreicher Lehrer. Er emigrierte 1940 in die Vereinigten Staaten, war Rabbiner in Hollywood und stieg zu einer der wichtigsten Persönlichkeiten der Juden in Nordamerika auf. In manchen Publikationen wird ihm besonders hoch angerechnet, daß er drei berühmte Schauspieler ins Judentum aufgenommen habe: Marilyn Monroe, Elizabeth Taylor und Sammy Davis jr.
Am Abend des Tages meiner Bar Mizwa folgte in unserer Wohnung, wie es üblich ist, ein Abendessen für die ganze Familie; es waren etwa fünfzehn Personen geladen. Doch wurde ich enttäuscht. Denn ich stand durchaus nicht im Mittelpunkt, schlimmer noch, niemand kümmerte sich um mich. Die Gespräche am Tisch waren ziemlich erregt, betrafen jedoch ein anderes Thema: Der Reichsrundfunk hatte gemeldet, daß von der SS und der Gestapo und unter Teilnahme von Adolf Hitler eine gegen ihn gerichtete Verschwörung, an
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