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Mein Leben

Mein Leben

Titel: Mein Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Reich-Ranicki
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dauerten bisweilen einige Tage und wurden, wenn Ferien waren, auch am Sonnabend gemacht – denn um Religiöses kümmerte man sich in diesem jüdischen Bund nicht. Man übernachtete in Scheunen oder Zelten. Ich lernte damals ganz gut jenen Teil Deutschlands kennen, den ich immer noch ganz gern habe: die Mark Brandenburg.
    Natürlich sangen wir Lieder, doch nicht etwa jüdische Wanderlieder – denn die gab es nicht. Wir sangen also »Prinz Eugen, der edle Ritter« und »Vom Barette schwankt die Feder«, »Görg von Frundsberg führt uns an« und »Dem Frundsberg seind wir nachgerannt, der Fahne haben wirs geschworen«. Wir sangen »Wildgänse rauschen durch die Nacht«, ohne zu wissen, daß diese Verse von Walter Flex stammten, und uns gefielen solche Lieder wie »Die Glocken stürmten vom Bernwardsturm« und »Jenseits des Tales standen ihre Zelte«, ohne uns darum zu kümmern, daß ihr Autor, Börries von Münchhausen, nun ein Anhänger, ja sogar Bewunderer der Nazis war. Kurz: Wir übernahmen bewußt und unbewußt die Lieder der Wandervogelbewegung und auch solche, die von der Hitlerjugend gesungen wurden, wo übrigens »Jenseits des Tales« nach dem Röhmputsch untersagt war, wohl wegen der homoerotischen Anklänge. So habe ich auf überraschende Weise auch diesen Zweig der deutschen Tradition kennengelernt.
    Die Heimabende des Jüdischen Pfadfinderbunds haben indes mein Interesse auf ganz andere Themen gelenkt, vor allem auf einen originellen Intellektuellen, dessen Schriften und Tagebücher ich sogleich las und für den ich noch heute, ganz unabhängig vom Ideologischen und Politischen, sehr viel Sympathie habe. Ich meine jenen österreichischen Juden, dem etwas Unerhörtes gelungen ist – nämlich mit einem Roman zur Weltveränderung beizutragen.
    Er, Theodor Herzl, war zunächst nichts anderes als ein typischer, wenn auch ungewöhnlich intelligenter Wiener Kaffeehausliterat, ein guter Feuilletonist und ein Autor mäßiger Lustspiele, die aber immerhin vom Burgtheater aufgeführt wurden. Mit dem Judentum hatte er wenig, mit der jüdischen Religion nichts gemein. Erst der Pariser Dreyfus-Prozeß im Jahre 1894, an dem er als Berichterstatter teilnahm, hatte seinen Wandel bewirkt: Herzl wurde ein Staatsmann, wenn auch ohne Staat, und ein Prophet, dessen Utopie Wirklichkeit geworden ist. Literat, der er war, wählte er für seine Vision des Staates Israel die Form eines Romans: Er erschien 1902 unter dem Titel »Altneuland«.
    Geradezu paradox mutet das an: Der neuzeitliche Staat der Juden – das war erst einmal ein Stück deutscher Literatur, ein zwar künstlerisch unerheblicher, doch wahrlich folgenreicher Roman. Natürlich habe ich das damals nicht gewußt und auch nicht geahnt. Imponiert hat mir wohl vor allem der Literat mit der großartigen Phantasie, der assimilierte deutschsprachige Jude mit seiner ungewöhnlichen Kühnheit und mit seinem grandiosen Organisationstalent.
    Aber weder die Mark Brandenburg noch die Lieder der Wandervogelbewegung, weder Theodor Herzl noch die Vision des Staates Israel konnten bewirken, daß ich mich in diesem Jugendbund heimisch fühlte. Meine große Leidenschaft, die Literatur, schien hier nicht gefragt. Gleichwohl gab es in jener Zeit einen Abend, der mich begeisterte und aufrüttelte und darüber nachdenken ließ, ob mein Platz denn nicht doch in dieser Organisation sei.
    Einer unserer Führer, wohl knapp über zwanzig, schaltete die Deckenbeleuchtung ab und rückte ein an der Seite stehendes Pult in die Mitte. Dann zog er sich zu unserer Verwunderung in ein Nebenzimmer zurück. Nach einigen Minuten betrat er, von uns schweigend erwartet, langsam und etwas feierlich den beinahe dunklen Versammlungsraum. Er trug einen langen Militärmantel aus dem Ersten Weltkrieg, in der einen Hand hielt er eine Taschenlampe, in der anderen ein dünnes Buch. Es „war ein grüner, weiß geschmückter Band der Insel-Bücherei. Der junge Mann begann zu lesen: »Reiten, reiten, reiten, durch den Tag, durch die Nacht, durch den Tag. Reiten, reiten, reiten. Und der Mut ist so müde geworden und die Sehnsucht so groß.«
    Ich kannte sie damals noch nicht, diese »Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke«. Die theatralischen Umstände, unter denen die Dichtung des jungen Rilke von dem kostümierten Amateur im halbdunklen Raum vorgetragen wurde, haben wohl dazu beigetragen, daß ich mich sehr bald in sie beinahe verliebt habe. »Als Mahl beganns. Und ist ein Fest geworden, kaum weiß

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