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Mein Leben

Mein Leben

Titel: Mein Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Reich-Ranicki
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nicht langweilig und regte unsere Phantasie an.
    Da gab es einen nicht mehr jungen Lehrer, der uns ausführlich erklärte, alle bisherigen Deutungen des »Hamlet« seien unzulänglich, wenn nicht gar falsch. Von ihm werde demnächst ein Buch veröffentlicht, das eine neue, eine den Fall ein für allemal abschließende Interpretation bringe. Das Buch erschien in der Tat, ich habe es im Schaufenster einer Buchhandlung unweit unserer Schule gesehen. Ein Wort über das angeblich bahnbrechende Werk war freilich in keiner Zeitung zu finden. Den Namen dieses Lehrers habe ich längst vergessen. Aber seine engagierten Darlegungen haben, auch wenn sie häufig auf Abwege führten, mein Interesse für Shakespeare gesteigert und meine eigenen Gedanken ausgelöst.
    Manchen Lehrern gelang es, scheinbar mühelos, uns in Begeisterung zu versetzen. Ein solch enthusiastischer Lehrer war Fritz Steineck. Nur eine Leidenschaft kannte er: die Musik. Ob er uns ein Haydn-Oratorium, ein Schubert-Lied oder eine Wagner-Oper erklärte, er sprach immer mit größtem Engagement. Es war für ihn – jedenfalls glaubten wir dies – unerhört wichtig, uns davon zu überzeugen, daß und warum eine Passage von Mozart oder Beethoven so herrlich sei. Er war, so schien es mir, ausnahmslos allen, die sich für die Musik ernsthaft interessierten, dafür persönlich dankbar – auch den Juden. Ja, er hatte jüdische Schüler besonders gern, weil die meisten musikalisch waren und viele von ihnen Klavier oder Violine spielten. An Nazi-Lieder in seinem Unterricht kann ich mich nicht erinnern.
    Als er uns mit leuchtenden Augen vom »Tannhäuser« sprach und uns die wichtigeren Szenen vorspielte und vorsang, machte er uns auf eine seiner Ansicht nach häufig unterschätzte Situation aufmerksam. Am Anfang des zweiten Aktes, gleich nach dem, wenn man so sagen darf, Auftrittslied der Elisabeth, heißt es: »Tannhäuser, von Wolfram geleitet, tritt mit diesem aus der Treppe im Hintergrunde auf.« Nachdem Elisabeth Tannhäuser erblickt hat, singt Wolfram: »Dort ist sie; nahe dich ihr ungestört.« Es folgt die Bühnenanweisung: »Er bleibt, an die Mauerbrüstung gelehnt, im Hintergrunde.« Dies, so Steineck, sei ein ergreifender Augenblick. Denn Wolfram liebe die Elisabeth, verzichte jedoch – und das werde schon hier deutlich – zugunsten des Tannhäuser. Von edler Entsagung war die Rede. Wann immer ihr den »Tannhäuser« sehen werdet, prophezeite uns Steineck, werdet ihr bei dieser Stelle an mich denken. Er hat recht behalten – jedenfalls wenn es um mich geht.
    Als die Schüler, die ein Instrument beherrschten, etwas zum besten geben sollten und einer – und zwar ein Jude – im Unterschied zu den anderen, die mit klassischen Stücken aufwarteten, einen miserablen Schlager klimperte, befürchteten wir, Steineck werde ihn streng zurechtweisen. Doch was vorgefallen war, hatte ihn nicht empört, sondern nur betrübt. Er sagte ganz leise: »Dies war schlechte Musik. Aber auch schlechte Musik kann man anständig spielen.« Er ließ sich die Noten geben, die er angewidert mit spitzen Fingern anfaßte, und setzte sich ans Klavier: Es war nicht unter seiner Würde, uns den Schlager vorzuspielen. Er war schon ein glänzender Pädagoge, ein liebenswerter Mensch. Ich verdanke ihm nicht wenig.
    Nachzutragen bleibt, was ich erst viele Jahre später, 1982, erfahren habe: Dieser Musiklehrer Steineck war langjähriges Mitglied der NSDAP und nicht nur ein Mitläufer. Er gehörte schon Ende der zwanziger Jahre zu Hitlers begeisterten Anhängern. Und noch etwas habe ich über ihn erfahren. Im Fichte-Gymnasium war es üblich, die Abiturienten alljährlich mit dem vom Schülerchor gesungenen Lied »Nun zu guter Letzt« zu verabschieden. Dieses um 1848 entstandene Lied, dessen Verse von Hoffmann von Fallersleben stammen, hatte jetzt einen fatalen Schönheitsfehler, der früher allen entgangen war: Ein Jude hatte es komponiert, und zwar Felix Mendelssohn-Bartholdy.
    Steineck fand einen Ausweg aus der heiklen Situation: Zu dem alten Text schrieb er kurzerhand eine neue Melodie. Er, der sich jahrelang und wahrlich nicht ohne Erfolg bemüht hatte, uns beizubringen, daß es nichts Schöneres und Edleres auf Erden gebe als die Musik, kannte also keine Hemmungen, er schämte sich also nicht, das Lied zu »entjuden«, zu »arisieren«. Warum hat er sich zu dieser doch schändlichen Tat hergegeben, was stand dahinter? Mit Sicherheit weder Ahnungslosigkeit noch Musikliebe, eher schon

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