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Mein Leben

Mein Leben

Titel: Mein Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Reich-Ranicki
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Ehrgeiz und Eitelkeit. Oder wollte er dem mächtigen Direktor, dem »Goldfasan« Heiniger, gefallen?
    Dieser Heiniger war unter allen unseren Lehrern, wenn ich mich recht entsinne, der einzige, der sich im Unterricht wiederholt als eifriger, ja fanatischer Nationalsozialist zu erkennen gab. Aber auf keinen Fall sollten wir ihn mit den oft vulgären SA-Leuten von der Straße verwechseln. Im Habitus dieses wohl fünfzig Jahre alten, schon etwas rundlichen Mannes mit Glatze war nichts Zackiges. Er benahm sich nicht wie ein Offizier, der vor seiner Kompanie oder seinem Bataillon steht. Vielmehr war ihm daran gelegen, den Schülern die Lässigkeit eines Generals zu demonstrieren. Mitunter ließ er durchblicken, daß er ungleich mehr über den neuen Staat wisse, als man in den Zeitungen zu lesen bekam. Kein kleiner Nazi also, sondern einer aus der Elite der Mächtigen und Eingeweihten – so sollten wir ihn sehen.
    In unserer Klasse unterrichtete er Geschichte. Er redete viel und prüfte selten. Als Dozent wollte er gelten, nicht als Pauker. So behandelte er uns besonders verbindlich, als seien wir schon Studenten. Auch die jüdischen Schüler konnten sich nicht beklagen – und ich am allerwenigsten: Er war zu mir freundlich, nie fragte er mich (wofür ich ihm dankbar war) nach historischen Fakten und Daten. Er meinte, ich sei vor allem für die Deutung der Geschichte zuständig. Bisweilen unterhielt er sich mit mir im Unterricht wie mit einem erwachsenen, einem ebenbürtigen Gesprächspartner. Das war freilich nur Taktik: Er wollte meine Ansichten hören, um sie vom nationalsozialistischen Standpunkt um so effektvoller widerlegen zu können – was ihm, kein Wunder, mühelos gelang.
    Eines Tages teilte er der Klasse überraschend mit, daß die jüdischen Schüler von der nächsten Geschichtsstunde »befreit« seien: Die Stunde war, wie sich später herausstellte, der Auseinandersetzung mit dem »Weltjudentum« gewidmet. Dies sollte, immerhin, den jüdischen Schülern erspart bleiben. Auf die Zensuren, die er erteilte, hatten seine Anschauungen über die Juden keinen Einfluß. Ich bekam von ihm stets »gut«, auch im Abiturzeugnis. Eine bessere Note hat es in unserer Klasse in Geschichte nicht gegeben.
    Gerecht war er, dieser Heiniger. Wenn aber die vorgesetzten Behörden angeordnet hätten, daß die Juden am Unterricht nur stehend teilnehmen oder die Schule nur barfuß betreten dürften, hätte er die Anordnung gewiß korrekt ausgeführt und bestimmt in schönen wohlgesetzten Worten als historische Notwendigkeit begründet. Nein, wir mußten nicht barfuß die Schule betreten, aber unsere Schädel hat man vermessen – und auch die einiger nicht-jüdischer Schüler. Es geschah im Rassenkunde-Unterricht, einem im »Dritten Reich« eingeführten Fach, das im Grunde nur einen Zweck hatte: Die Schüler von der Minderwertigkeit der Juden und der Überlegenheit der »Arier« zu überzeugen. Dieses Fach wurde von den Biologielehrern übernommen, bei uns von einem älteren, vernünftigen Mann, einem gewissen Thom, dessen Name die Schüler alljährlich zu demselben Wortspiel verführte: An der Tür der Klasse, die er betreute, wurde stets nach Beginn des neuen Schuljahrs die Aufschrift »Onkel Thoms Hütte« angebracht.
    Von der neuen Wissenschaft hielt dieser Lehrer offenbar nicht viel. Er langweilte uns mit besonders ausführlichen Darlegungen über den Neandertaler und andere Menschen aus der Vorzeit. Offensichtlich hatte er wenig Lust, sich mit der Frage der Juden zu befassen. Dazu mögen die überraschenden Ergebnisse der Schädelmessungen beigetragen haben. Sie wurden nach einer entsprechenden Anleitung im Lehrbuch der Rassenkunde vorgenommen und sollten wissenschaftlich einwandfrei beweisen, welcher Rasse der Vermessene angehöre.
    Es zeigte sich, daß den typisch nordischen Schädel, also den in rassischer Hinsicht besten, nur ein einziger Schüler hatte – ein Jude. Herr Thom schien verlegen, aber doch nicht unglücklich. Lächelnd fragte er diesen Schüler, ob unter seinen Vorfahren vielleicht Arier seien. Seine Antwort lautete: »Nein, eher Juden.« Alle lachten. Übrigens sollte derselbe Schüler, schlank und groß, blondhaarig und blauäugig, einer der Fahnenträger bei der Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele 1936 sein. Als man im letzten Augenblick merkte, daß er Jude war, wurde er rasch ausgetauscht. Kurz und gut: Der Rassenkunde-Unterricht war in unserer Klasse nicht eben erfolgreich.
    Daß zwischen den

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