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Mein Leben

Mein Leben

Titel: Mein Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Reich-Ranicki
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jüdischen und den nichtjüdischen Schülern die Distanz immer größer wurde, war unvermeidlich und hatte zunächst einmal mit dem Alltag zu tun. Die Nichtjuden waren alle in der Hitler-Jugend, einige in einer angeblich vornehmeren Formation, der Marine-Hitler-Jugend, die auf der Havel übte. Einer war ein hoher Jungvolk-Führer. Oft kamen sie in Uniform in die Schule, gern berichteten sie über ihre Erlebnisse und Abenteuer, taten es aber nicht gerade in Gesprächen mit den Juden. Freilich erinnere ich mich immer noch an jenen Schulkameraden, der an einem der Nürnberger Parteitage teilnehmen durfte und der sich dann in der Klasse mit erregter Stimme rühmte: »Ich stand nicht weit vom Führer. Ich habe ihn gesehen, ich werde seine blauen Augen nie vergessen.«
    Von keinem dieser Mitschüler habe ich je ein Wort gegen die Juden gehört. Sicherlich haben die meisten, wenn nicht alle, an das neue Deutschland geglaubt. Sie hörten den Rundfunk, sie lasen, mehr oder weniger genau, die Zeitungen. Täglich waren sie der höchst aggressiven antisemitischen Propaganda ausgesetzt, die man 1936 der Olympischen Spiele wegen merklich gemildert hatte, doch nur vorübergehend – und die dann 1937 und erst recht 1938 immer heftiger wurde. Auf dem Weg zur Schule mußten wir an den roten Schaukästen vorbeigehen, in denen der »Stürmer« mit den berüchtigten Karikaturen ausgehängt war. Während der Olympischen Spiele waren diese Schaukästen übrigens verschwunden. Die Ausländer sollten glauben, das »Dritte Reich« sei ein zivilisierter Staat. Auch manche Juden redeten sich ein, sie hätten das Schrecklichste schon überstanden, man werde sie jetzt menschlicher behandeln.
    Ein geringfügiger Vorfall scheint mir charakteristisch für die Atmosphäre in unserer Schule. Ein noch junger Lehrer, unzweifelhaft ein Nazi, betrat die Klasse nach der Pause früher als sonst. Da es dort noch ziemlich laut herging, sagte er unwillig und nicht leise: »Hier ist ja ein Lärm wie in einer Judenschule.« Sofort wurde es still – und es war eine etwas unheimliche und frostige Stille. Dann begann der Unterricht, doch schon nach wenigen Minuten unterbrach der Lehrer seine Ausführungen. Was denn los sei, fragte er. Ein Schüler stand auf und meinte knapp, das mit der Judenschule sei nicht nötig gewesen. Dem Lehrer war nicht ganz wohl: Es sei ihm unverständlich, erklärte er, warum die Klasse auf eine im Deutschen übliche Redewendung so verwundert reagiere.
    Wie man sieht, waren offene antisemitische Äußerungen im Unterricht nicht üblich – jedenfalls nicht in dieser Schule oder zumindest nicht in unserer Klasse. Verdankten wir dies dem von den Juden seit ihrer Emanzipation geschätzten preußischen Geist? Oder kam uns jüdischen Schülern am Fichte-Gymnasium zugute, was vom Ethos des Westberliner Bürgertums noch übriggeblieben war? Sicher ist, daß wir auch von den Nationalsozialisten unter unseren Lehrern gerecht behandelt wurden.
    Und unsere Mitschüler? Warum haben sie uns Juden keinen Kummer bereitet, uns niemals schikaniert? 1963 trafen wir uns in Berlin – die Überlebenden des Abiturientenjahrgangs 1938, unter ihnen vier Mediziner. Es war ein angenehmes, ein vergnügliches Beisammensein: Es verlief so, wie derartige Treffen zu verlaufen pflegen: »Weißt Du noch? Erinnerst du dich?« Harmlose Anekdoten wurden erzählt, allerlei Reminiszenzen ausgetauscht. Einige der Herrn berichteten, aber meist eher beiläufig, von ihren beruflichen Erfolgen, von ihren vielen und weiten Urlaubsreisen. Auch die Autos, die sie fuhren, blieben nicht unerwähnt. Die Stimmung war gut, und langweilig war es überhaupt nicht.
    Nur ab und zu wurde es etwas still. Da hatte einer über ein kleines Abenteuer während eines Schulfests oder eines Ausflugs berichtet, brach aber verlegen ab, weil ja die anwesenden Juden damals nicht dabeisein durften. Erst jetzt, also mit einer Verspätung von 25 Jahren, erfuhr ich, daß es nach dem Abitur ein rauschendes Abschiedsfest mit denkwürdigen Vorfällen gegeben hatte, zumal manche Lehrer und manche Abiturienten in stark angetrunkenem Zustand Verbrüderung feierten. Das Benehmen einiger Kameraden wurde kritisiert, natürlich nur der Abwesenden, also der Gefallenen. Einige Male war die Heiterkeit ein wenig getrübt, immer dann, wenn die Herrn sich daran erinnerten, daß in der Runde auch Juden saßen. Aber davon abgesehen, war es, alles in allem, sehr gemütlich.
    Beiläufig wurde ich – mit ernster Miene freilich

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