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Mein Leben

Mein Leben

Titel: Mein Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Reich-Ranicki
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unsere Mitschüler, diese Söhne aus guten Familien und Zöglinge der Hitler-Jugend, wohl für selbstverständlich gehalten, darüber haben sie mit uns nicht gesprochen, nie ein Wort der Verwunderung oder gar des Bedauerns verlauten lassen. So war es am Fichte-Gymnasium in Berlin. An anderen Berliner Schulen, zumal in den vorwiegend von Arbeitern und Kleinbürgern bewohnten nördlichen und östlichen Stadtteilen, soll es erheblich schlimmer gewesen sein. Noch schlimmer war es, wie man den Erinnerungen von Generationsgenossen, Juden und Nichtjuden, entnehmen kann, in Kleinstädten: Jüdische Schüler wurden nicht selten schrecklich, sadistisch gequält – sowohl von ihren Lehrern als auch von ihren Mitschülern.
    An einen in unserer Klasse erinnere ich mich besonders gern. Er war sympathisch und verhielt sich den Juden gegenüber tadellos. Als ich ihn zum ersten Mal nach dem Krieg wiedersah – er war inzwischen als Arzt tätig –, erzählte er mir, er habe 1940 in der Nähe des Stettiner Bahnhofs in Berlin inmitten einer von der Polizei geführten und bewachten größeren Anzahl von Juden unseren alten Mitschüler T. bemerkt. Er habe einen elenden Eindruck gemacht: »Da dachte ich mir, es wird dem T. sehr peinlich sein, daß ich ihn in einem so erbärmlichen Zustand sehe. Mir war es unangenehm, ich habe schnell weggesehen.« Ja, das trifft die Sache: Millionen haben weggesehen.

 
Mehrere Liebesgeschichten auf einmal
     
    Wann hat meine Leidenschaft für die Literatur angefangen? Genau weiß ich es nicht, aber meine Mutter muß sie schon sehr früh bemerkt haben. Denn als ich zwölf Jahre alt war, bekam ich von ihr aus irgendeinem Anlaß ein Geschenk, ein ungewöhnliches: eine Eintrittskarte für die Aufführung des »Wilhelm Tell« im Staatlichen Schauspielhaus am Gendarmenmarkt.
    An diesem Abend, Ende 1932, da ich zum ersten Mal eine richtige Vorstellung sah und nicht nur Kindertheater, begannen einige meiner großen Liebesgeschichten, alle auf einmal: Ich meine die Liebe zur deutschen Literatur, ich meine die Jahrzehnte währende, später freilich nachlassende Liebe zum Theater, ferner die zwar oft gefährdete, doch nie ganz abgestorbene Liebe zu Schiller und schließlich noch die Liebe zu einem Gebäude, das mir das teuerste in Berlin wurde und bis heute geblieben ist – zu Schinkels Schauspielhaus am Gendarmenmarkt.
    Der große Jürgen Fehling hatte diese »Tell«-Aufführung inszeniert. Wer stand damals, in den letzten Monaten der Weimarer Republik, auf der Bühne? Aber was geht uns das heute noch an? Vielleicht doch ein wenig. Den Arnold von Melchtal spielte ein noch junger, energisch aufstrebender und schon bekannter Schauspieler, der einige Jahre danach als Filmregisseur höchst erfolgreich war und in allen deutschen Zeitungen mit Lob und Beifall überschüttet wurde. Er hieß Veit Harlan und hat später den gemeinsten, den niederträchtigsten Film über und gegen die Juden gedreht, der je produziert wurde – den Film »Jud Süß«.
    Den Tell gab Werner Krauss, wohl der erste Mime der Epoche. Auch er war später am »Jud Süß« beteiligt. Auf eigenen Wunsch verkörperte er gleich mehrere Juden, und es ließ sich schwer entscheiden, welcher von ihnen der widerwärtigste war. Als Tells Gattin, Hedwig, konnte man Eleonora von Mendelssohn sehen, eine Ur-Urenkelin von Joseph, dem ältesten Sohn des Philosophen Moses Mendelssohn. Sie emigrierte 1933 und hat sich dann in den Vereinigten Staaten das Leben genommen.
    Der Darsteller jenes Konrad Baumgarten, der im ersten Akt des »Wilhelm Tell« vor den Schergen des Landvogts flieht, war ebenfalls ein Jude: Alexander Granach. Sehr bald mußte er selber fliehen. Den Johannes Parricida verkörperte Paul Bildt. Seine Frau, eine Jüdin, war, um der Deportation nach Theresienstadt zu entgehen, nicht gemeldet. Als sie kurz vor Kriegsende starb, wurde sie heimlich in einem Park beerdigt. Bildt und seine Tochter gerieten vollkommen in Verwirrung und beschlossen, gemeinsam Selbstmord zu verüben. Nur er überlebte.
    Den Ulrich von Rudenz spielte Hans Otto, der nie ein Hehl daraus gemacht hatte, Kommunist zu sein. Sofort nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten kämpfte er im Untergrund und wurde im November 1933 in der Haft ermordet. Nach ihm wurde in DDR-Zeiten das Theater in Potsdam benannt: Es heißt nach wie vor Hans-Otto-Theater. Und schließlich noch ein Kuriosum: In dieser Inszenierung glänzte als Reichsvogt Geßler ein junger Charakterschauspieler, den

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