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Mein Leben

Mein Leben

Titel: Mein Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Reich-Ranicki
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größten Überraschung beurteilte Beck auch diese Arbeit mit »Sehr gut«. Nur seiner Begründung wegen, die mich damals beeindruckte und die mir immer noch gefällt, komme ich hier auf diese Sache zu sprechen. Er sagte mir etwa: »Ich gebe Ihnen eine Eins aus zwei Gründen. Erstens wegen des Gedankens in dem gestrichenen Abschnitt und zweitens dafür, daß Sie diesen Gedanken schließlich doch verworfen haben. Denn er war originell, aber falsch.«
    Einmal war ich meiner Sache ganz sicher: Mein Hausaufsatz über Georg Büchner, der drei Hefte füllte – das fiel ganz aus dem Rahmen und war ungehörig –, schien mir ein Glanzstück. Indes wurde ich bitter enttäuscht: Die Note lautete nur »Im Ganzen gut«, also Zwei minus. Allerdings sollte ich mich in der Pause bei Beck im Lehrerzimmer melden, was ungewöhnlich war. Da es den Schülern nicht erlaubt war, das Lehrerzimmer zu betreten, kam er zu mir heraus. Meine Arbeit sei – sagte er mir – kein Schulaufsatz mehr, als literarischer Versuch jedoch nicht gut genug. Daher nur »Im Ganzen gut«. Er sah sich um, ob jemand in der Nähe stand, und fügte dann leise hinzu: »Aber wenn Sie in Paris Kritiker geworden sind, dann schreiben Sie mir mal eine Postkarte.« Paris war in jener Zeit das Zentrum der deutschen Exilliteratur.
    Ich beschloß, gleich mit dem Schreiben von Kritiken zu beginnen: Jede Aufführung, die ich sah, wollte ich rezensieren. Ich schaffte mir eine dicke Kladde an und verbreitete mich zunächst über eine Inszenierung von Ibsens »Hedda Gabler« mit der eher als Filmschauspielerin bekannten Hilde Hildebrand in der Titelrolle. Wovon die zweite Kritik handelte, weiß ich nicht mehr, nur ist sicher, daß es eine dritte nicht gegeben hat.
    Im Winter 1937 ging meine Mutter in Becks Sprechstunde und kehrte wieder einmal begeistert zurück. Er hatte sie sehr freundlich empfangen und ihr einen überraschenden Rat erteilt: »Lassen Sie sich, gnädige Frau, von den zeitbedingten Umständen nicht beirren – und ermöglichen Sie Ihrem Sohn das Studium der Germanistik.« Später hörte ich, Beck habe während des Krieges die Gewohnheit gehabt, vor Juden auf der Straße, die – wie das Gesetz es befahl – mit dem gelben Stern gekennzeichnet waren, stets den Hut zu ziehen, als seien es seine Bekannten. War er ein politischer Mensch? Ich glaube es nicht. Nur hat er die deutschen Klassiker gelesen und ernst genommen. Er hat sie beherzigt. Wenn ich heute an Carl Beck denke, bin ich es, der das Bedürfnis hat, den Hut zu lüften.
    Schließlich, im letzten Schuljahr, unterrichtete Deutsch ein Studienassessor, der, als er das erste Mal in die Klasse kam, besonders laut »Heil Hitler« rief und sich damit gleich als entschiedener Nazi vorstellte. Er war bei fast allen Schülern unbeliebt. Warum? Wegen der Zugehörigkeit zur NSDAP? Nein, natürlich nicht, sondern weil er sich damit brüstete. Das weckte Mißtrauen. Opportunisten mochte man nicht. Bald zeigte sich auch, daß dieser Germanist nicht zu den intelligentesten gehörte. Anders als seine Vorgänger hielt er sich für verpflichtet, auch ein wenig von der nationalsozialistischen Literatur in den Unterricht aufzunehmen. Wir mußten uns daher eine kleine, gerade als Reclam-Heft erschienene Sammlung mit NS-Lyrikern anschaffen. Die Klasse war wenig erbaut, man verspottete diese Verse, was mich noch heute wundert. Offenbar hatten die Schüler von solchen Liedern genug. Denn sie mußten in der Hitlerjugend viel gesungen werden.
    Bei der schriftlichen Abiturientenprüfung hatten wir vier Themen zur Auswahl. Ich hatte damit gerechnet, daß zwei, wenn nicht gar drei dieser Themen im nationalsozialistischen Geist sein würden. Es kam aber schlimmer: Alle vier waren mehr oder weniger von diesem Geist geprägt. Ich entschied mich für einen ziemlich üblen Ausspruch des heute schon vergessenen nationalistischen Kulturphilosophen Paul de Lagarde.
    Überdies mußte jeder Schüler in der mündlichen Prüfung in einem Fach seiner Wahl sich bewähren, um nicht zu sagen: brillieren. Nur zwei Schüler wählten für diese Prüfung Deutsch. Es waren zwei Juden. Mehrere Wochen vor der Prüfung hatte man ein Thema vorzuschlagen, das vom Lehrer, jenem unbeliebten Studienassessor, akzeptiert werden mußte. Das meinige wurde von ihm sofort und ohne Begründung abgelehnt. Denn ich hatte mich zu Georg Büchner entschlossen, der aber im »Dritten Reich«, was mir entgangen sein mußte, ungern gesehen wurde: »Woyzeck« durfte überhaupt

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