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Mein Leben

Mein Leben

Titel: Mein Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Reich-Ranicki
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gestörtes Verhältnis zu ihren größten Dichtern haben. Übrigens war der Barbar, der sich damals bemühte, diese Schiller-Gedichte zu liquidieren, ein Mann mit außerordentlichem poetischen Talent: Hans Magnus Enzensberger.
    Im Deutschunterricht war vom Einfluß des »Dritten Reichs«, was verwundern mag, vorerst nicht viel zu merken – jedenfalls in unserer Schule. Das aber sollte man nicht als Opposition der Lehrer verstehen, es hatte in der Regel nichts mit Politik und Weltanschauung zu tun, sondern weit eher mit der Unlust dieser Herren, auf eine Literatur einzugehen, die sie noch kaum kannten. Einiges mußte in der neuen Zeit wegfallen: Noch waren in unseren Lesebüchern Gedichte von Heine zu finden, aber man überging sie ohne Begründung. Werke der Klassiker, in denen jüdische Figuren oder Motive vorkamen oder gar im Mittelpunkt standen, also Lessings »Nathan«, die »Judenbuche« der Droste-Hülshoff oder Hebbels »Judith«, nahm man nicht mehr durch.
    Von den Schriftstellern, die von den neuen Machthabern gefördert wurden, von Agnes Miegel also und Ina Seidel, von Hans Grimm und Hanns Johst, von Eberhard Wolfgang Moeller, Hans Rehberg und Hans Friedrich Blunck, wollten unsere Deutschlehrer nichts wissen: Sie blieben lieber bei dem, was sie vor 1933 gelesen und gelernt hatten, bei »Kabale und Liebe« und »Wallenstein«, beim »Götz von Berlichingen« und beim »Faust«, beim »Schimmelreiter« und den »Leuten von Seldwyla«. Da kannten sie sich aus, das machten sie nach wie vor recht gut.
    »Ich kann die Klassiker nicht leiden, die Schule hat sie mir verekelt« – man hört dies oft. Für mich gilt das nicht, es war ja gerade umgekehrt: Die Schule hat, wie sonst nur noch das Theater, mein Interesse für die Literatur von Lessing bis Gerhart Hauptmann, zumal für Goethe, Schiller und Kleist, in hohem Maße gesteigert und bisweilen meine Begeisterung auch auf mir noch unbekannte Bereiche gelenkt. Allerdings war das Programm etwas einseitig, nämlich unverkennbar norddeutsch geprägt. So bot der Deutschunterricht mehr Kleist und Fontane als Hölderlin und Jean Paul, mehr Hebbel und Storm als Mönke und Stifter.
    Innerhalb von drei Jahren, von 1935 bis 1938, hatte ich am Fichte-Gymnasium drei Deutschlehrer. Sie repräsentierten – das war natürlich ein Zufall – drei politische Richtungen: Der erste war ein Deutschnationaler, der zweite ein Liberaler, der dritte ein Nazi.
    Was der Deutschnationale uns über seine Erlebnisse in den ersten Nachkriegsjahren erzählte, war so patriotisch wie engstirnig. Aber wenn er über den »Prinzen von Homburg« sprach (seine Sympathien gerecht auf den Prinzen, den Kurfürsten und den Kottwitz verteilend) und uns am Beispiel Storms erklärte, was eine Novelle sei, dann sah man, daß er ein solider, ein guter Germanist war. Er schätzte mich und behandelte mich tadellos – ohne mich sonderlich gern zu haben.
    Anders der Liberale, Carl Beck. Dieser joviale, gutmütige Mensch gehörte gewiß zu jenen, die Lehrer wurden, weil es ihnen nicht gelingen wollte, ihre beruflichen Vorstellungen zu verwirklichen. Im Grunde war er, der einst mit einer Arbeit über Gottfried Keller promoviert wurde, wohl eher ein Literat als ein Pädagoge. Es ist möglich, daß ich sein Lieblingsschüler war. Wir hatten zufällig den gleichen Schulweg. Wenn ich ihn traf, grüßte ich ihn, wie es die Schulordnung erforderte, mit »Heil Hitler«, ja, das wurde tatsächlich auch von den Juden verlangt. Beck hob ebenfalls die Hand, denn es war durchaus nicht ausgeschlossen, daß uns irgendein anderer Lehrer oder Schüler beobachtete. Aber »Heil Hitler« sagte er nicht, er murmelte »Guten Tag« – und dann unterhielt er sich mit mir über Literatur, auch über Heine.
    Für meine Aufsätze bekam ich fast immer eine Eins. Als Glanzstück galt ein Klassenaufsatz über das Thema »Mephistopheles – eine Charakteristik«. Einmal allerdings befürchtete ich eine nur mäßige Note. Es war ebenfalls ein Klassenaufsatz, und zwar eine Interpretation des Schiller-Gedichts »Pegasus im Joche«. Mir war ein Malheur passiert: Im allerletzten Augenblick, als wir die Hefte schon abgeben mußten, hatte ich plötzlich gemerkt, daß ein längerer Abschnitt der sorgfältig gegliederten Niederschrift auf eine zwar kühne, doch falsche These zulief. Schnell entschlossen, strich ich diesen Teil durch und änderte die Numerierung der Abschnitte. Das aber war, ich wußte es, eine unverzeihliche Sünde.
    Doch zu meiner

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