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Mein Leben

Mein Leben

Titel: Mein Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcel Reich-Ranicki
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– gefragt, wie ich denn den Krieg überstanden hätte. Es gehörte sich doch, meinten wohl meine Schulfreunde, ein gewisses Interesse zu zeigen. Eine Höflichkeitsfrage war es, nicht mehr. Ich antwortete kurz und bündig. Niemand wollte Genaueres hören. Man war mir dankbar, daß ich rasch das Thema wechselte. Alle diese Herrn, gebildete und nachdenkliche Menschen, waren Offiziere der Wehrmacht gewesen, im Osten und im Westen. Man kann sicher sein: Sie haben Schreckliches und Grausames miterlebt. Hatten sie auch mit Judenverfolgungen zu tun? Ich weiß es nicht. Daß sie aber über das, was mit den Juden geschah, zumindest in groben Umrissen informiert waren, dessen bin ich ganz sicher. Haben sie sich darüber je Gedanken gemacht – in den Jahren des Krieges und danach, als die deutsche Schuld immer deutlicher erkennbar wurde? Nichts war meinen alten Schulkameraden während dieser zwei Tage in Berlin – so lange dauerte unser Treffen – anzumerken, auch nicht, als wir einzeln miteinander sprachen.
    Daß sich keiner mitschuldig fühlte, kann ich wohl verstehen. Nichts liegt mir ferner, als ihnen eine Mitschuld zuzuschreiben. Aber eine gewisse Mitverantwortung dafür, was Deutsche getan hatten, was im deutschen Namen geschehen war? Nein, auch von Mitverantwortung war nichts zu hören, sie wollten nicht darüber reden. Meine wohlerzogenen Schulfreunde, die einst braune und schwarze Uniformen getragen hatten und später jene der Wehrmacht – sie waren, glaube ich, typische Vertreter der Jahrgänge 1919 und 1920. Ich hatte nicht die Absicht, auf dem Thema zu bestehen. Wir waren ja nicht nach Berlin gekommen, um Bitteres zu hören, mochte alles weiterhin harmlos verlaufen. Aber ein wenig mußte ich die Harmonie doch stören – mit einer Frage, die indes nicht die Kriegsjahre betreffen sollte, sondern unsere, wenn man so sagen darf, gemeinsame Zeit.
    Ich hätte mich, sagte ich, im Laufe des vergangenen Vierteljahrhunderts oft gefragt, warum sich die Mitschüler uns Juden gegenüber damals, im »Dritten Reich«, trotz der ungeheuerlichen antisemitischen Propaganda nichts hätten zuschulden kommen lassen. Eine Weile schwiegen alle. Schließlich sagte einer der Anwesenden, eher zögernd: »Herrgott, wie sollten wir denn an die Theorie von der Minderwertigkeit der Juden glauben? Der beste Deutschschüler der Klasse war ein Jude und einer der schnellsten Hundertmeterläufer ebenfalls ein Jude.«
    Ich war verblüfft, diese Antwort enttäuschte mich, ich fand sie lächerlich. Und wenn ich nicht der beste Deutschschüler gewesen wäre und mein Freund nicht einer der besten Läufer, dann hätte man uns schikanieren dürfen? War denn die Verfolgung der Juden nur deshalb verwerflich, weil man ihnen diese oder jene Leistung nachrühmen konnte? Ich glaube, ich hätte meine alten Mitschüler mühelos davon überzeugen können, daß sie mich mit einer unsinnigen Antwort abspeisen wollten. Aber ich verzichtete darauf, denn es schien mir, daß ich die Gemütlichkeit schon hinreichend gestört hatte.
    Die Wahrheit sah wohl anders aus. Eine gewisse Rolle mag das Vorbild der Lehrer gespielt haben. Da sie sich uns Juden gegenüber stets manierlich und anständig verhielten, haben sich auch unsere Klassenkameraden manierlich und anständig benommen. Überdies stammten sie aus gutbürgerlichen Elternhäusern, in denen man sich wie eh und je um die Erziehung der Kinder kümmerte. Die Umgangsformen waren in unserer Klasse gesittet, Vulgärausdrücke, die heutzutage auch in der deutschen Literatur, zumal wenn es um die Sexualsphäre geht, unentwegt verwendet werden, waren bei uns nicht üblich. Es herrschte ein freundlich-höflicher Umgangston.
    Vor allem aber: Haben die Halbwüchsigen der offiziellen Propaganda getraut, waren sie davon überzeugt, daß die Juden tatsächlich das Unglück des deutschen Volkes und der Menschheit seien? Sehr gut möglich. Doch in den Augen dieser Schüler betraf die nationalsozialistische Propaganda, so glaube ich immer noch, letztlich ein Abstraktum (etwa »das Weltjudentum«) und wurde nicht unbedingt oder überhaupt nicht auf jene bezogen, mit denen sie auf einer Schulbank saßen, von denen sie gelegentlich Klassenarbeiten abschrieben und mit Gegenleistungen nicht sparten, die sie also seit Jahren kannten und respektierten – auf die jüdischen Mitschüler.
    Daß aber immer mehr Juden von der Schule verschwanden und diejenigen, die noch verblieben waren, diskriminiert und abgesondert wurden – das haben

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