Mein Leben
wir noch in unseren neunziger Jahren auf der Bühne bewundern konnten: Bernhard Minetti.
Die »Tell«-Aufführung am Gendarmenmarkt veränderte sofort meine Lektüre. Im eher bescheidenen Bücherschrank meiner Eltern suchte und fand ich eine Schiller-Ausgabe. Ich begann, im Bett liegend, da ich etwas erkältet war und deshalb nicht zur Schule mußte, ganz einfach mit den ersten Seiten des Bandes, mit dem Schauspiel, das diese Ausgabe eröffnete: »Die Räuber«. Kaum hatte ich die Worte »Aber ist Euch auch wohl, Vater?« gelesen, da konnte ich mich von dem Buch nicht mehr losreißen. Nichts anderes interessierte mich als die eine einzige Frage: Was wird mit diesen Räubern geschehen, wie wird die Sache ausgehen? Ich empfand das Stück als unerhört spannend, es regte mich auf, ich las es mit roten Backen und roten Ohren. Und ich konnte nicht aufhören zu lesen – bis ich bei dem Satz »Dem Mann kann geholfen werden« angekommen war. Und ich war glücklich. Karl Moor faszinierte mich ungleich mehr als Old Shatterhand, seine Räuber mehr als alle Indianer Karl Mays.
Im Laufe der Jahre habe ich dieses Drama häufig auf der Bühne gesehen. Es waren mehr oder weniger gelungene Inszenierungen, aber eine wirklich gute habe ich nie erlebt. Ob die »Räuber« heute noch spielbar sind – ich bin dessen nicht sicher. Etwa ein halbes Jahrhundert nach dieser Bettlektüre wurde ich vom Hessischen Rundfunk gebeten, die Verfilmungen einiger Schiller-Stücke einzuleiten, auch der »Räuber«. Ich habe die Untugenden und Fehler dieses Dramas ausführlich beschrieben, was nicht schwer ist, da sie allesamt offenkundig sind. Der zuständige Abteilungsleiter war im Studio zugegen, ganz wohl fühlte er sich bei meiner vehementen Anklage und Beschimpfung nicht; und er atmete erst auf, als ich sagte: »Das wars. Nun muß ich nur noch erklären, warum ich die ›Räuber‹ liebe wie nur ganz wenige Stücke in der ganzen Weltliteratur.« Daran hat sich bis heute nichts geändert.
Mit Schiller hängt auch mein erster Erfolg als Deutschschüler zusammen. Es war noch im Werner von Siemens-Realgymnasium, in der Unter- oder Obertertia. Einer der Mitschüler sollte einen Vortrag über den »Wilhelm Tell« halten, war aber schon nach knapp fünf Minuten fertig. Der Lehrer, der erheblich mehr erwartet hatte, fragte, ob jemand noch etwas über das Stück sagen könnte. Ich meldete mich und legte los: Der »Tell« verherrliche den politischen Meuchelmord und einen individuellen Terrorakt. Um dies und ähnliches zu erklären und zu begründen, muß ich viele Worte gebraucht haben, denn nach etwa vierzig Minuten, als es zur Pause klingelte, sprach ich immer noch. Doch ließ mich der Lehrer meine Darlegungen zu Ende führen und kommandierte dann knapp: »Setzen.« In der Klasse wurde es ganz still, man erwartete einen Schuldspruch wegen unverschämter Kritik an einem klassischen Werk. In der Tat sagte unser Lehrer, was ich da geredet hätte, sei nicht hinreichend belegt und zum Teil auch falsch. Andererseits wiederum – bemerkte er in bester Laune – sei es so übel wieder nicht. Ich bekam (zur Verwunderung der Klasse) die beste Note: eine Eins. Damals habe ich zweierlei gelernt – erstens, daß man in der Literaturbetrachtung auch etwas riskieren müsse und, zweitens, daß man sich von Klassikern nicht einschüchtern lassen solle.
Übrigens will ich nicht verheimlichen, daß sich zu meiner frühen Schwäche für Schillers Dramen bald eine andere Schwäche gesellte – für seine populären und so oft verspotteten Balladen. Nun ja, manche lassen sich heute nicht ganz ernst nehmen, aber es gibt einige, die ich gern gelesen habe und – schlimmer noch – die ich nach wie vor gern lese. »Die Kraniche des Ibykus« halte ich für eine der schönsten Balladen in deutscher Sprache.
So wollte ich 1966 meinen Augen nicht trauen: Im dritten, den Gedichten gewidmeten Band einer Ausgabe von »Schillers Werken« hatte der Herausgeber, offensichtlich ein Barbar, eben »Die Kraniche des Ibykus« weggelassen, aber auch »Das Lied von der Glocke«, »Die Bürgschaft«, den »Grafen von Habsburg«, den »Kampf mit dem Drachen«, »Das verschleierte Bild zu Sais« und noch andere nicht zufällig bekannte Gedichte Schillers. Diese von einem traditionsreichen und renommierten Verlag publizierte Ausgabe machte wieder einmal deutlich, daß die Deutschen – anders als die Franzosen und die Engländer, die Spanier und die Italiener – ein gebrochenes, ein zutiefst
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